Das ermordete Haus
bevor er alle drei bestraft hatte.
Er kam mit dem Fahrrad, das er in einem Graben am Fuß einer kleinen Brücke versteckte. Eines Tages entdeckte er dabei ein weiteres Rad im Gras. Es war älter als seines, mit einem Gepäckträger versehen, und er hätte es für herrenlos gehalten, wäre nicht an der Gabel die gültige Steuerplakette befestigt gewesen. Er achtete nicht groß darauf und versteckte seines ein wenig abseits.
Von weitem sah er in der Abenddämmerung das Bataillon schwarzer Bäume inmitten von Weinbergen und helleren Ackern aufragen. Die dicht stehenden Stämme starrten aus der Ebene wie die Lanzen einer altertümlichen Armee. Wenn er durch die Hohlwege schlich, nahm er immer den abgelegensten und am stärksten überwachsenen Pfad. Von dort schlüpfte er in das vom Wind gebeutelte Dickicht. Sofort wurde auch er zum Spielball des Windes. Aber dabei kamen ihm seine Erfahrungen aus dem Krieg zugute. Er wußte, daß dicht am Boden selbst das Geräusch eines Sperrfeuers nicht den schnellen Lauf der angreifenden feindlichen Kompanie übertönte. Deshalb warf er sich ohne zu zögern auf den Boden. Und dann kroch er durch Brennesseln, durch mit stacheligen Disteln gespicktes Gras. Er hielt sich auf der Höhe der Alleen, hinter den riesigen winterharten Steinbrechstauden versteckt. Nach drei Tagen kannte er den immer gleichen Weg Gaspards vom Paddock bis zum Wasserbecken. Und genau dort, am Wasserbecken, sah er ihn zum ersten Mal.
Während er dem Wind zugewandt im Schilf des Sumpfes zwischen den Pappelstämmen kauerte, tauchte Gaspard im Mondschein zwischen zwei Spindelbäumen vor ihm auf. Séraphin sah einen untersetzten Mann, kräftig gebaut, von recht gewöhnlichem Aussehen, dem man ansah, daß er auf der Hut war. Er ging mit wiegenden Schritten auf dem Rand des Beckens, seinen gewaltigen Kötern folgend. Das schußbereite Gewehr im Anschlag, schritt er vor sich hin. Im Halbschatten seines breitkrempigen Hutes konnte man den Schnurrbart und die Augenbrauen erkennen. Man sah, daß sein Gesicht schreckensbleich war. Zweimal umrundete er die Wasserfläche, bevor er hinter den Spindelbäumen verschwand.
Séraphin wunderte sich nicht, keinerlei Haß ihm gegenüber zu empfinden. In seinen schlaflosen Nächten hatte er sich die Seele eines Rächers geschmiedet. Er war nur die Waffe eines Opfers, dem er gehorchen mußte, nur ihm, denn sonst würde er wieder das unerbittliche Rascheln des welken Laubes im steinernen Waschtrog hören, wo sich die Seele dieser toten Mutter vielleicht immer noch aufhielt; denn sonst würde er sie wieder auf sich zukommen sehen, wie sie ihm ihre Brust aufdrängte, auf der noch die letzten beiden Tropfen Milch gerannen, die vor vierundzwanzig Jahren für ihn bestimmt gewesen waren.
Er fragte sich auch nicht, wie er es fertigbringen sollte, sich eines Mannes zu entledigen, der bewaffnet war und von zwei gewaltigen Hunden beschützt wurde. An diesem Abend kroch er an den Rand des Wasserbeckens, auf die Seite, wo die Pappeln Schatten warfen. Er strich mit der Hand sanft über den kalten Marmor, wie um sich zu vergewissern, ob er auch schön glatt und eben sei. Er kam zu der Überzeugung, daß dies der Ort war, an dem sich alles abspielen mußte.
Am vierten Tag erreichte die Montagnière ihren Höhepunkt. Ihre heisere Klage ließ die dunkelsten unerfüllten Wünsche aus den Tiefen des Gedächtnisses aufsteigen. Die Bäume krachten wie Schiffsmasten. Auf den geknickten Ästen, die kläglich wie gebrochene Flügel herabhingen, wurden die leeren Vogelnester zerfetzt oder fortgeweht.
An diesem Abend trieb sich Séraphin auf dem Bauch robbend oder tief geduckt in den dunklen Bereichen des Parks herum und fand sich plötzlich vor dem chinesischen Pavillon wieder, der ihm gleich für einen Hinterhalt geeignet erschien. Das Mondlicht ließ die elegante Konstruktion, die ihr Dasein der Laune eines müßigen Landadligen aus dem letzten Jahrhundert verdankte, im Schmuck der üppigen Ranken des wilden Weins erstrahlen. Zwischen den Mauern aus Grün herrschte ein so undurchdringliches Dunkel, daß Séraphin zögerte, sich dorthin zu wagen. Es war ihm noch nicht gelungen herauszufinden, wo sich der Herr von Pontradieu gerade aufhielt. Es war gut möglich, daß er sich genau dort befand, denn sein üblicher Weg führte mitten durch den Laubengang. Mit gespannter Aufmerksamkeit durchschritt Séraphin den Durchlaß, den der Gärtner jedes Jahr in den wilden Wein schnitt. Er tappte ein paar Schritte
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