Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das ermordete Haus

Das ermordete Haus

Titel: Das ermordete Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
Vom Netzwerk:
vor allem war er allein mit der Wahrheit, die er nicht mit ihr teilen konnte. Ach! Hätte er ihr doch sagen können:
    »Meine Mutter will mit mir schlafen, genau wie Sie! Meine Mutter – die seit vierundzwanzig Jahren tot ist! Die Kehle wurde ihr durchgeschnitten, von Ihrem Vater! Deshalb will sie nicht, daß ich Sie anfasse. Deshalb schleicht sie sich an Ihre Stelle. Sie wollten die Wahrheit? Nun, jetzt kennen Sie die Wahrheit!«
    Denn er glaubte aufrichtig, daß sie so aussah, die Wahrheit.
    Charmaine folgte dem gehetzten Blick, dem Blick eines Ertappten, den Séraphin auf alles richtete, nur nicht auf sie. Das Rätsel, das sie vom ersten Tag an bei ihm gewittert hatte, reizte ihre Neugier.
    Ich werde mir die nötige Zeit lassen, dachte sie, ich rechne nicht einmal mit heute nacht. »Also gut«, sagte sie sanft, »Sie wollten mich sehen. Dann schauen Sie mich wenigstens an …« Dieses Mal trug sie ein Kleid mit schwarzweißem Rhombenmuster, wie es sich nur Frauen mit der richtigen Figur und der richtigen Augenfarbe erlauben können. Aber hatte er darauf überhaupt geachtet, auf ihre Augenfarbe? Linkisch stand er da, Séraphin, und gefangen von der sinnlichen Ausstrahlung der Dinge, die sie jeden Tag umgaben, wich er ihnen aus, diesen Augen.
    Die Angst, wieder von seinen Visionen gequält zu werden, erfüllte ihn mit Panik. Bisher war es ihm gelungen, sie gerade noch rechtzeitig zu unterdrücken. Doch jetzt war er in der Zwickmühle. Seinen Besuch auf Pontradieu um zehn Uhr abends konnte er nur damit erklären, daß er wegen Charmaine gekommen war. Und da sie ihn ebenfalls erwartet hatte, stand nichts mehr zwischen ihnen.
    »Wollen Sie lieber …« Sie machte einen Schritt auf Séraphin zu, der immer noch bewegungslos zwischen dem Flügel und dem Kamin verharrte, zwei Schritte von der Tür entfernt, die sie hinter ihm geschlossen hatte. Sie setzte von neuem an: »Wollen Sie lieber … zusehen, wie ich mich ausziehe? Oder wollen Sie mich ausziehen? Oder soll ich mich da drüben ausziehen?« Sie hatte den Eindruck, falschzuspielen, nicht das Richtige zu sagen. Es war noch nie vorgekommen, daß ein Mann, den sie selbst in ihr Zimmer geführt hatte, ihr dort steif und tatenlos gegenüberstand. Sie wies mit dem Kopf auf die angelehnte Tür des Badezimmers hinter ihr.
    »Da drüben«, sagte Séraphin.
    Sie gehorchte folgsam, doch kurz bevor sie das Zimmer verließ, drehte sie sich noch einmal zu ihm um. »Sie werden doch nicht die Gelegenheit nutzen, um davonzulaufen?« fragte sie.
    »Nein … Wieso sollte ich davonlaufen? Nie und nimmer …« Er wurde rot bei dem Gedanken, daß sie ihn so gründlich durchschaut hatte. Denn genau das hatte sein Unterbewußtsein ihm zugeraunt: aus dem Zimmer zu rennen, sobald sie verschwunden war, auf sein Fahrrad zu springen, wie verrückt in die Pedale zu treten, die vier Kilometer bis nach Peyruis, und dann ins Bett zu gehen, sich in die Laken zu hüllen, die Panik abebben zu lassen, zu vergessen …
    Aber so fern sie der Wahrheit auch noch sein mochte, er durfte ihr keinen Anlaß geben, sich zu fragen: »Dann war er also nicht meinetwegen im Pavillon? Aber weshalb dann? Warum streunte er durch den Park, an einem Werktag, so weit von zu Hause?«
    Wenn er Gaspard erst getötet hätte, könnte diese Überlegung seiner Tochter ihm zum Verhängnis werden. Nein, wenn er sein Richteramt bis zum Ende ausüben wollte, mußte er alles ertragen. Er mußte Charmaine umarmen, bis sie sich in das Trugbild der Girarde verwandeln würde. Und aus dieser Umarmung mußte er die Kraft schöpfen, um dem standzuhalten, was dieser Schatten ihm mit aller Macht durch den Mund der anderen einflüstern wollte. Dennoch konnte er sein Grauen nicht unterdrücken, während er dieser Begegnung entgegensah.
    Er hörte nicht, wie sie aus dem Badezimmer glitt. Sie stand plötzlich vor ihm. Ihr Körper, der gerade noch von der Form ihres Kleides, so gut es ihr stehen mochte, eingeengt worden war, schien plötzlich mehr Platz im Raum zu beanspruchen, er hatte sich entfaltet wie eine Blütenknospe.
    Séraphin blieb unbeweglich stehen, die Arme hingen an seinem Körper herab, die Hände blieben zu Fäusten geballt, er hatte sich nicht gerührt, seit er das Zimmer betreten hatte. Beim Anblick der nackten Charmaine, die sich vor ihm räkelte, war sein Glied plötzlich heftig angeschwollen, hatte sich in der engen Hose verklemmt und tat ihm weh.
    Verstohlen lächelnd setzte sich Charmaine aufs Bett. Sie ließ sich auf die

Weitere Kostenlose Bücher