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Das ermordete Haus

Das ermordete Haus

Titel: Das ermordete Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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blind durch die Dunkelheit. Auf  der gegenüberliegenden Seite, wo sich ein ähnlicher Durchlaß befand, raschelten die windgepeitschten Rosensträucher der Pergola im Mondschein.
    Da legte sich plötzlich eine Hand leicht auf seine Schulter. Auf einen Angriff war er gefaßt gewesen, nicht auf eine Liebkosung. Das Gespenst, das sein Unbewußtes heimsuchte, war stets bereit, vor ihm zu erscheinen, so daß er unter dieser Hand, die ihn zart betastete, in Panik jäh zurückwich. Er wich so schnell zurück, daß er gegen ein Hindernis stieß, stolperte; er versuchte sich zu fangen und landete schließlich sitzend auf einer Bank. Der Wind verwandelte die dichten Blätter des wilden Weins in ein Orchester von Kastagnetten, das allein für seine Ohren aufspielte.
    »Wer ist das?« hauchte er.
    »Wer sollte es schon sein?« Er erkannte Charmaines Stimme nahe an seinem Ohr.
    »Haben Sie mich denn völlig vergessen?«
    »Es ist sehr dunkel.«
    »Schon, aber mein Parfüm ist immer noch dasselbe.«
    »Man riecht nichts, der Wind verweht es«, meinte Séraphin.
    »Alles verweht der Wind. Nur uns nicht. Weshalb haben Sie sich nicht zu mir getraut? Ich suche Sie überall.«
    »Sie suchen mich überall?« fragte Séraphin, um Zeit zu gewinnen.
    »Ja, überall im Park. Einen Augenblick glaubte ich sogar, Sie in einem Mondstrahl vorbeikommen zu sehen. Ich habe Sie sogar gerufen. Aber … bei diesem Wind …«
    »Das war nicht ich«, sagte Séraphin. Er hütete sich hinzuzufügen: Mich hätten Sie bestimmt nicht gesehen. »Das muß Ihr Vater gewesen sein … Oder Ihr Bruder«, setzte er hastig hinzu.
    »Nein …« Charmaine überlegte einen Augenblick. »Weder der eine noch der andere. Aber was spielt das jetzt für eine Rolle, wo Sie endlich hier sind. Und wenn mein Parfüm nicht bis zu Ihnen dringt, dann heißt das, daß ich zu weit entfernt von Ihnen bin.«
    Er hatte nicht die Geistesgegenwart besessen, während dieser Unterhaltung wieder aufzustehen. Er fühlte, wie sie sich ihm auf den Schoß setzte, wie ihre Arme seinen Brustkorb umfingen, und dann spürte er, wie zwei Brüste sich an seine Brustwarzen preßten, die das weit geöffnete Hemd unbedeckt ließ.
    Er erstarrte zu einem steinernen Standbild. Das Leben zog sich tief in sein Inneres zurück. Mit geballten Fäusten und geschlossenen Augen versuchte er, sich auf den bevorstehenden Ansturm der Bilder vorzubereiten, die in einer Windung seines Gehirns lauerten. Auf diese Erscheinung, die sich dieser neuen Empfindung unfehlbar dazu bedienen würde, Charmaines Brüste durch die mit Milch benetzten einer Toten zu ersetzen, deren Rundungen sich bereits unheilvoll in der Dunkelheit abzeichneten.
    Er wand sich in Charmaines Armen, wohl wissend, daß die Vision verschwinden würde, sobald sein Verlangen erlosch.
    »Sie sehen …« brachte er heraus.
    Charmaine stand auf. »Ah, richtig … Mich sehen … Sie möchten mich sehen. Ich will Sie auch sehen … Sie anschauen … Kommen Sie!«
    Sie zog ihn beinahe allein mit der Kraft ihres Willens hoch. Sie führte ihn durch die Tür, deren Schlüssel sie ihm ausgehändigt hatte. Und ohne sein Handgelenk loszulassen, das sie wie ein Schraubstock umklammert hielt, zog sie ihn über die Türschwelle in ihr Zimmer.
    »Warten Sie!« sagte sie. Im Zimmer war es dunkel. Auch hier wehte der Wind, drang heulend durch die Öffnung eines kalten Kamins. Charmaine machte Licht. Séraphin wandte sich zur Lampe. Sie war als demütig kniende Glasfigur ausgebildet, die einen fleischfarbigen Lampenschirm hielt. Sie stand auf dem Flügel, der die Form einer Harfe hatte. Séraphin sah noch einen Sekretär, ein ländliches Bett, sehr groß, aus massivem Nußbaum, ein typisches Hochzeitsgeschenk, und ein solches war es wohl auch. Er sah einen Schrank mit halbgeöffneter Tür, dahinter Damenwäsche. Er sah Bücher, die auf dem großen Teppich vor dem Kamin verstreut lagen, durch den der Wind fuhr. Die unordentlich auf dem Teppich herumliegenden Kissen ließen erkennen, daß jemand sich oft dort aufhielt, unmittelbar auf dem Boden ausgestreckt. Ein Parfüm schwebte über diesem anheimelnden Bild, wohl dasselbe, das die schöne Witwe benutzte. Nie hatte das Wort »Glück« soviel Gehalt für Séraphin gehabt wie angesichts dieses Stillebens. All diese Dinge sollten ihm später, sehr viel später, ins Gedächtnis zurückkehren.
    Er war allein mit dieser Frau in einem Zimmer, wie er, Séraphin Monge, der Straßenarbeiter, noch nie zuvor eines gesehen hatte. Aber

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