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Das ermordete Haus

Das ermordete Haus

Titel: Das ermordete Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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Dieser Dummkopf! Glaubte er vielleicht, daß sie sich die ganze Nacht lang zu Tode langweilen würde bei der Leiche ihres Vaters, den sie nie geliebt hatte? Die Lust, die durch die plötzlich gefallenen Schüsse jäh unterbrochen, gleichsam im Keim erstickt worden war, stachelte ihren so wohl vorbereiteten Körper nun wieder an.
    Die Taube, deren Gesicht sich trotz der vielen Tränen unbewegt zeigte, betete mit neuer Inbrunst den Rosenkranz. Man konnte in ihren ruhigen Zügen die Gewißheit ablesen, daß der Verstorbene nun schon mit gefalteten Händen vor dem Angesicht Gottes stand. Dennoch erschien hin und wieder ein Zucken auf ihrem Gesicht. Sie verlor ihren Rosenkranz in den Falten ihres Rockes. Klein und hilflos drückte sie sich an den knorrigen Körper der Dragonerin und verbarg ihren Kopf in deren Kleid aus Sackleinen. Sie rief sie mit ihrem dünnen Stimmchen als Zeugin an: »Meine arme Eudoxie! Mein armer Gaspard!« Dann wagte sie sich auf Zehenspitzen zu ihm hinüber, um ihn noch einmal zu sehen. Patrice begegnete dem Tod seines Vaters mit derselben traurigen Nachsicht, die er dem Lebenden entgegengebracht hatte. Es tat ihm leid, ihn nicht mehr unter den Lebenden zu wissen, aber diese neue Regung von Trauer konnte das starke Glücksgefühl nicht ersticken, das über ihn gekommen war. Er war immer noch dort oben, bei der Mühle von Saint-Sépulcre. Er war ganz sicher, daß Rose ihre Schwester Marcelle geheißen hatte, sich am Fenster zu vergewissern, ob er es war, der ihr da auf dem Felsen über dem Wasserfall auf seiner Mandoline vorspielte. Er sah noch vor sich, wie das Fenster, hinter dessen Schutz Roses reglose Gestalt erschienen war, in einer Geste des Einverständnisses geöffnet wurde.
    Nur Séraphin war beim Anblick des Verstorbenen tief betroffen. Er hatte sich der Leiche ein oder zwei Mal unter dem mißtrauisch lauernden Blick der Dragonerin genähert, um Gaspards Hände zu betrachten, die man mit Gewalt über den Perlen eines Rosenkranzes gefaltet hatte. Das waren also dieselben Hände, die das Klappmesser, das tranchet, an der Sioubert-Quelle geschliffen hatten, um es wenig später in den Hals der Girarde zu stoßen. Und jetzt hatte auch dieses Leben ein Ende gefunden, aber in völligem Frieden, wie irgendein beliebiges Leben, ohne Gewissensqualen ausgesetzt und der Gerechtigkeit überantwortet worden zu sein.
    Séraphin sann über die Auswirkungen dieses banalen Unfalls nach, der ihm das Heft aus der Hand genommen hatte. Gaspard Dupin war gestorben, aber so, wie fast alle sterben, ohne jemandem dabei ins Auge schauen zu müssen, der ihm eröffnet hätte, warum er starb.
    Er hatte zu lange gewartet. Er hatte sich von dieser Witwe einlullen lassen, die ihn jetzt von der anderen Seite des Totenbettes her mit ihren Blicken verschlang. Er spürte, daß Charmaines Verlangen nach ihm noch da war, daß noch nicht einmal der Geruch dieses heimtückischen Wassers, mit dem der Leichnam, der einfach nicht trocknen wollte, durchtränkt war, es zu unterdrücken vermochte. Er machte eine Bewegung auf seinem Stuhl, richtete sich halb auf.
    »Wohin gehen Sie?« fragte Charmaine.
    »Nach Hause. Ich muß morgen früh –«
    »Morgen ist Sonntag«, sagte Charmaine. »Und außerdem müssen Sie ohnehin hierbleiben. Der Arzt und die Gendarmerie werden gleich dasein. Patrice hat sie telefonisch benachrichtigt. Sie werden Sie befragen wollen … Sie waren am Tatort …« Sie glaubte, eine abwehrende Bewegung bei ihm zu sehen. »Seien Sie unbesorgt … Ich werde sagen, warum Sie hier waren.«
    Tief in Séraphin regte sich Zorn, stieg unvorsichtig in ihm hoch. Für wen hielt sie ihn eigentlich?
    »Ich habe keine Angst! Nicht um mich!« knurrte er.
    Dann setzte er sich wieder. Im selben Augenblick aber fiel ihm ein, daß er es sich nicht leisten konnte, Empfindlichkeit zu zeigen. Er durfte sich nicht verraten. Er durfte nicht den geringsten Verdacht aufkommen lassen. Er mußte der einfache und unterwürfige Straßenarbeiter bleiben. Der da war tot, sei’s drum. Aber die anderen beiden lebten noch. Er sagte kein Wort mehr. Statt dessen hielt er die Augen starr auf den Leichnam gerichtet und versuchte, sich an dem Anblick zu weiden. Und dennoch spürte er, daß ihm Gaspard Dupin, so tot er sein mochte, entkommen war.
    Früh um fünf fuhr der Arzt in einem Voisin vor, der aus der Zeit vor dem Krieg stammte und dessen Kühlerhaube mit Tauen festgezurrt war. Vor Gaspards Leiche zuckte er zusammen. Noch drei Tage zuvor hatte er

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