Das ermordete Haus
Patrice an sich gezogen, so wie ich es mit Rose getan hatte. Nur hat er ihn – wie soll ich sagen – nicht wie einen Bruder, auch nicht wie einen Freund an sich gedrückt. Fast hätte ich gesagt, wie eine Mutter! Aber nein, es war auch nicht wie bei einer Mutter. Eigentlich hat er ihn auch nicht an sich gedrückt, er hielt ihn in seinen Armen geborgen. Und er hat mit ihm geweint. Er war ein sicherer Hafen, dieser Séraphin. Er war … Ach, wie hätte ich ihn denn nicht lieben sollen? Und ich sah seine armen verstümmelten Hände, die ganz schwarz waren und auf denen man immer noch die Spuren der Hundezähne sehen konnte. Ich hab mir gesagt: Man wird sie ihm abnehmen müssen! Und ich weinte. Und ich hab mich gefragt: Wie macht er das nur? Wie bringt er es bloß fertig, nicht zu zeigen, daß er Schmerzen hat? Und während ich mich das fragte, klapperte ich mit den Zähnen, denn dort muß es gewesen sein, in dieser zugigen Waschküche, in der der Leichnam immer noch seine Wundflüssigkeit absonderte und in der ich das Wasser aus einem schlecht zugedrehten Wasserhahn in das große Spülbecken tropfen hörte … Ja, mein lieber Herr, wenn sie mich danach fragen, dort muß es gewesen sein, wo ich mir den Tod geholt habe.
Und das alles hat so lange gedauert, bis plötzlich die Tür hart aufgestoßen wurde. Da sind meine Eltern hereingekommen. Und die, die haben nichts gesehen. Die haben überhaupt keine Rücksicht genommen. Meine Mutter rief: ›Marie!‹, und sie haben Rose, die sich kaum aufrecht halten konnte, ohne Umstände beiseite geschoben. Und sie überschütteten mich mit ihren Tränen und Küssen und mit ›meine arme Kleine!‹. Gezerrt und gezogen haben sie an mir. Mein Vater hatte sein Gewehr umhängen. Er rief: ›Weg von hier, schnell, weg von hier!‹ Sie hatten den Leihwagen des Werkstattbesitzers in Peyruis gemietet. Ich hab mich gefühlt wie in einem Schraubstock. Noch nie hatte meine Mutter mich so an sich gedrückt, ihren Augapfel. Niemals wieder, mein lieber Herr, nie bin ich je wieder der Augapfel von jemandem gewesen … Damals habe ich mich gewehrt, ich habe auch geschrien. Ich wollte bei Séraphin bleiben. Wissen Sie, damals brachte ich zweiundsechzig Kilo und ebensoviel Willenskraft auf die Waage! Es war nicht leicht, mich wegzukriegen … Ich schrie, daß ich etwas zu sagen hätte. Das stimmte. Daß ich vergessen hätte, etwas zu sagen. Das stimmte. Als ich Séraphin nachts auf der Straße gefolgt war, war mir jemand auf einem Fahrrad ohne Licht und mit einem verbogenen Rad entgegengekommen. Die ganze Zeit danach ist mir das in meinem fiebrigen Kopf herumgegangen: Verbogenes Rad, etwas sagen … etwas, das nur du allein bemerkt hast … Aber nein! Sie haben mir nicht die Zeit dazu gelassen. Sie haben gemerkt, daß ich Fieber hatte, daß ich mit den Zähnen klapperte. Ihre Liebe hatte mehr Kraft als mein Wille. Sie haben mich einfach mitgenommen. Und an diesem Abend … oder dem Abend darauf – oder drei Tage später? Ich weiß es nicht mehr … Ich muß mich ein paar Tage so dahingeschleppt haben. Ach Gott, das alles ist so lange her. Jedenfalls habe ich mich an einem dieser Tage ins Bett gelegt und bin nicht mehr aufgestanden. Fünfundzwanzig Tage, ganze fünfundzwanzig Tage lang, mein lieber Herr! Alles übrige ist ohne mich passiert.«
… sollte Marie über sechzig Jahre später sagen.
Zwei Tage später war Séraphin wieder auf der Straße. Mit geschwollenen Händen umklammerte er den Stiel des Vorschlaghammers, als wollte er ihn zerbrechen, und er hieb im gewohnten Rhythmus auf den Schotter ein, in der Hoffnung zu vergessen. In der allgemeinen Gerüchteküche hatten sich die Hunde, die er getötet hatte, schnell in tollwütige Hunde verwandelt. Kinder und Radfahrer kamen in gebührendem Abstand vorbei. Alle hielten sie nach den ersten Anzeichen der Krankheit Ausschau. In Peyruis übten sich sogar sechs kräftige Burschen heimlich darin, den Straßenarbeiter gegebenenfalls zwischen zwei Matratzen zu ersticken.
Séraphin bekam keine Tollwut, aber wurde schwach wie ein Kind angesichts der schrecklichen Erkenntnis, die ihn überfiel:
Jemand hatte es sich zur Aufgabe gemacht, seine Pläne für ihn auszuführen. Jemand beobachtete ihn, folgte ihm, erriet jede seiner Bewegungen im voraus, tötete an seiner Stelle. »Aber nein! Niemals!« sagte er sich. »Ich hätte Charmaine nie getötet. Selbst wenn sie mich verraten hätte! Ich hätte es nicht fertiggebracht …« Stundenlang saß er
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