Das ermordete Haus
niedergeschmettert und mit starrem Blick auf der Bank vor dem Tisch, der immer noch die schiefe Lage einnahm, in die Charmaines Fußtritt ihn befördert hatte, als sie sich über ihn hermachte. Er konnte den Blick nicht von diesem leeren Stuhl abwenden, auf den sich zu setzen er nie wieder wagen würde. Charmaines Anwesenheit in diesem Zimmer war noch zu spüren. Sogar ihr Parfüm lag noch in der Luft.
Eines Abends öffnete Séraphin die Blechdose. Er nahm die Schuldscheine heraus, hob den Deckel des Zimmerofens ab – denn langsam war es kalt geworden – und hielt die Scheine über die Flammen. Aber er wagte es nicht. Er fürchtete, ein Sakrileg zu begehen. Er legte sie dorthin zurück, woher er sie genommen hatte.
»Nie wieder«, sagte er leise.
Er glaubte, nicht mehr genug Mut und Kraft zu haben, auf den Tod eines weiteren Menschen zu sinnen.
Dieser Entschluß schien ihm für eine Weile Frieden zu schenken. Er lebte nicht mehr in höchster Anspannung. Er konnte wieder schlafen. Zwei Nächte lang schlief er gut. Er war nicht länger auf der Hut. Seine riesigen Fäuste, deren Wunden sich unaufhaltsam mit neuem Fleisch überzogen, entspannten sich im Schlaf. Er ließ sie ungeschützt auf der Steppdecke ruhen.
Der Traum traf ihn mit voller Wucht, völlig unvorbereitet, wie ein Stich mit der Heugabel in den Hintern. Und dieses Mal kam er ohne Vorspiel, ohne dieses Rascheln welken Laubes, das ihn vorwarnte und es ihm für gewöhnlich erlaubte, sich aus dem Schlaf zu stehlen. Dieses Mal nicht. Er fand sich von wollüstigem Fleisch umschlungen, das nun nicht mehr nach Ruß, sondern nach Bergamotte roch. Er fand sich bedrängt von einem kraftvollen Körper, ohne sich in Einzelheiten zurechtfinden zu können. Der Körper war schon über ihm, als er sich des Traumes bewußt wurde. Sein Ohr empfing die Worte, die dieses Mal deutlich zu verstehen waren. Die Umarmung hielt ihn wie in einem Schraubstock gefangen, gleichsam um ihn zu zwingen, die Waffen zu strecken. Sie entlockte ihm einen gewaltigen Samenerguß, dem er nicht mehr Einhalt gebieten konnte. Mitten im Grauen überkam ihn die höchste Lust. Als er zu sich kam, saß er aufrecht im Bett und verspürte ein Kribbeln bis in die Haarwurzeln. Was hatte sie gesagt? Was hatte sie ihm sagen wollen? Mit welcher Stimme – eine Stimme, die er sein Lebtag noch nie gehört hatte – hatte sie ihm ihre Befehle eingeschärft? Sie hatte lange geredet. Doch erinnerte er sich nur noch an die letzten Worte, die einzigen, die er sich zu merken hatte: »Ich habe dich nicht ausgeschickt, damit du Mitleid empfinden sollst!«
Und von diesem Augenblick an geschah etwas Seltsames in Séraphins Herz: So wie seine Wunden verheilten, ohne Narben zu hinterlassen, so löste sich auch sein Geist von Charmaine; er vergaß Gaspard, vergaß Patrice und richtete seine ganze Aufmerksamkeit wieder einzig auf die Opfer, die er seiner Mutter zu Füßen legen mußte.
Am Abend nach dem Traum begann er, über die Hügel rund um die Mühle von Saint-Sépulcre zu streifen, wo der zweite Mörder seiner Familie hauste.
14
DIE Mühle von Saint-Sépulcre liegt eingezwängt unter einem langen Felsen an einem Fall des Lauzon, mitten in einer clue, einem Felsdurchlaß, der in eine kurze, kelchförmige Schlucht zwischen den ersten Hügeln des Lure-Gebirges mündet. Ihre sanften Rundungen liegen in Reichweite des Betrachters und laden zum Streicheln ein.
Hier gibt es kein Schaufelrad wie in den romantischen Mühlen. Der Lauzon hätte niemals genug Wasser, um es anzutreiben. Statt dessen gibt es ein System von Wehren, übereinander angeordneten Staubecken, Klappen, Schleusen, Stempeln, einem hölzernen Getriebe mit Stock- und Kammrädern, von Streben, Zahnstangen, Gegengewichten. Wenn sich das alles dreht, klappert es wie ein ganzes Orchester von Skeletten. Könnte man den gesamten Mechanismus mit einem Blick erfassen, sähe man eine Kirchturmuhr, die statt Zeit Oliven mahlt.
Unter den vielen Sépulcres, die sich im Laufe der Zeit hier abgelöst haben, hat jeder eine ausgeklügeltere Methode erfunden, die immer wieder auftretende Wasserknappheit ein wenig auszugleichen, so daß das System jetzt, nach so vielen Generationen, derartig kompliziert ist, daß es jedes Jahr komplett überprüft, ausgebessert und neu eingestellt werden muß, bevor die Mühle benutzt werden kann. Das fängt bei den Gerinnen an, die der Wasserzufuhr dienen.
An jenem Tag ging Didon Sépulcre früh aus dem Haus, die Schaufel
Weitere Kostenlose Bücher