Das erstaunliche Abenteuer der Expedition Barsac
daß er darüber hinaus besser als die Arbeiter, die ihm unterstanden, über die besonderen Zustände in dieser Stadt Bescheid gewußt hätte. Er wußte vielmehr nicht einmal, wie sie hieß.
Als eines Tages einer der Arbeiter ihn danach gefragt hatte, schien Camaret einen Augenblick lang ernstlich darüber nachzudenken.
»Um die Wahrheit zu sagen, ich weiß es eigentlich nicht …« hatte er dann zum großen Staunen seines Untergebenen zur Antwort gegeben.
Dieser Marcel Camaret war ein sonderbarer Mensch.
Seinem Äußeren nach zu urteilen, war er etwa vierzig Jahre alt. Er war von mittelgroßer Gestalt, und seine schmalen Schultern, seine flache Brust, seine dünnen und spärlichen Haare von einem fahlen Blond erweckten den Eindruck, daß er von Natur zart und anfällig sei. Seine Gesten waren maßvoll, seine Ruhe durch nichts zu beeinträchtigen, und er sprach, schüchtern wie ein Kind, mit einer schwachen, leisen Stimme, die er, was auch immer geschah, nie infolge von Zorn oder auch nur Ungeduld erhob. Er hielt seinen zu schweren Kopf immer etwas auf die linke Seite geneigt, und sein Gesicht von stumpfer Blässe mit feinen, kränklich wirkenden Zügen zeichnete sich nur durch eine einzige Schönheit aus: zwei wundervolle Augen, in denen der Himmel und seine Träume sich widerspiegelten.
Ein aufmerksamer Beobachter hätte in diesen magnetisch anziehenden Augen noch etwas anderes entdeckt. In gewissen Momenten durchfuhr sie ein unbestimmtes, unklares Aufflackern, und manchmal nahmen sie sogar sekundenlang einen verwirrten Ausdruck an. Wer zufällig dieses Aufflackern wahrgenommen hätte, würde bestimmt behauptet haben, Marcel Camaret sei verrückt, und vielleicht wäre ein solches Urteil, wenn man es recht bedenkt, der Wahrheit sogar nahe gekommen. Ist denn nicht in der Tat die Entfernung nur gering, die den Menschen von überlegenem Geist von dem Wahnsinnigen trennt? Hängt nicht nach irgendeiner Seite hin das Genie mit dem Irrsinn zusammen?
Ungeachtet seiner Schüchternheit, seiner körperlichen Schwäche und seiner Sanftmut war Marcel Camaret doch mit grenzenloser Energie begabt. Die größten Schwierigkeiten, die bedrohlichsten Gefahren, die grausamsten Entbehrungen machten keinerlei Eindruck auf ihn. Der Grund dafür war, daß er sie einfach übersah. Seine durchscheinenden blauen Augen waren nur ins Innere gewendet und nahmen äußere Zufälligkeiten nicht wahr. Er lebte außerhalb der Zeit, in einer von Chimären bevölkerten Zauberwelt. Er dachte. Er dachte mit aller Intensität, er dachte einzig und immer. Marcel Camaret war nichts als eine Denkmaschine, eine ans Wunderbare grenzende, harmlose – und doch zugleich erschreckende Maschine.
Zerstreut in einem Maße, daß er Saint-Bérain auf diesem Gebiet noch hinter sich ließ, oder vielmehr allem, was das materielle Leben ausmacht, vollkommen fremd, war er mehr als einmal in den Red River gefallen in der Meinung, er beträte eine Brücke. Sein Diener, der einem affenhaften Gesichtsschnitt den Spitznamen Joko verdankte, brachte ihn nicht dazu, regelmäßige Mahlzeiten einzunehmen. Marcel Camaret aß, wenn er Hunger hatte, und schlief, wenn er müde war, was ebenso gut zur Mittagszeit wie um Mitternacht eintreten konnte.
Zehn Jahre zuvor hatten Umstände, von denen man in Kürze Kenntnis erhalten wird, dazu geführt, daß er auf seinem Lebensweg Harry Killer begegnete. Zu jenem Zeitpunkt war eine Wundermaschinerie, die, wenn man ihrem Erfinder Glauben schenken wollte, imstande sein sollte, Regen zu erzeugen, eine von Camarets phantastischen Chimären. Da er sich keine Gelegenheit entgehen ließ, seine Phantasien jedem mitzuteilen, der sie anhören wollte, hatte auch Harry Killer zugleich mit den übrigen Zuhörern des Träumers von dieser damals vorerst nur als Theorie bestehenden Erfindung Kunde erhalten. Während alle anderen aber über solche Torheiten nur lachten, hatte Harry Killer sie derart ernst genommen, daß er auf ihnen das Projekt aufbaute, das dann von ihm verwirklicht worden war.
Wenn Harry Killer ein Bandit war, so war er doch ein Bandit großen Stils und hatte damit auch das Verdienst, zu erkennen, welchen Vorteil er sich von diesem allerseits verkannten Genie erhoffen durfte. Da der Zufall ihm Camaret auf Gnade und Ungnade ausgeliefert hatte, ließ er vor den Augen des Gelehrten die Verwirklichung seiner Träume in den funkelndsten Farben spielen und vermochte ihn auf diese Weise zu bewegen, ihm bis an den Punkt der Wüste zu folgen,
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