Das erste Buch der Traeume
die Tür der Besenkammer, und heraus trat – Lottie. Sie schwenkte ein Beil. »Ich könnte ein wenig Hilfe gebrauchen. Jemand muss ihnen die Hälse langziehen, damit ich sie besser schlachten kann.«
»Wenn du es nicht richtig machst, Kindermädchen, wird Daddy dich rauswerfen und Mrs Dimbleby wieder einstellen.« Florence durchquerte den Flur anmutig auf Schlittschuhen, in einem schwarzen Glitzertütü. Vor der Garderobe drehte sie eine Pirouette und lächelte uns liebenswürdig an. »Ihr sucht sicher das Knusperhäuschen, oder? Die Hexe wird sich so freuen, euch kennenzulernen. Grayson, erklärst du den beiden den Weg?«
Grayson, der neben der Garderobe an der Wand lehnte, hob kurz den Blick von seinem iPhone und zeigte auf die Tür, hinter der Mum verschwunden war. Die Türklinke wurde von einem riesigen Vanillekipferl gebildet. »Da entlang, ihr Mäuse«, sagte er, und Mia lief auch sofort los.
»Das ist eine Falle, du dummer Hänsel!«, wollte ich rufen, aber irgendetwas steckte in meinem Hals fest, und ehe ich es verhindern konnte, hatte Mia nach dem Vanillekipferl gegriffen, aus dem Nichts erschien eine Klaue, packte sie am Kragen, dann war sie verschwunden.
»Und da war es nur noch eine kleine Wachtel, mit der ich mir das Bad teilen muss«, sagte Florence lachend. »Nun sei ein braves Mädchen, Liv, und folge deiner Schwester.«
»Nein, tu das bloß nicht«, flüsterte Lottie hinter mir. »Es ist doch erst September, viel zu früh für Weihnachtsgebäck.« Mit dem Beil wies sie auf eine grüngestrichene Tür neben der Besenkammer. »Dahinter bist du in Sicherheit.«
»Wag es bloß nicht!«, kreischte Florence und nahm mit ihren Schlittschuhen Kurs auf mich. Ich stürzte auf die grüne Tür zu, riss sie auf, schlüpfte hindurch und warf sie hinter mir ins Schloss, eine Zehntelsekunde, bevor Florence von der anderen Seite dagegen donnerte. Erst in diesem Augenblick wurde mir klar, dass das alles nur ein Traum war, und ein ziemlich alberner dazu. (Obendrein recht simpel zu deuten, außer der Sache mit den Schlittschuhen vielleicht. Was wollte mein Unterbewusstsein mir damit sagen?) Trotzdem klopfte mein Herz noch ein bisschen vor Aufregung.
Zögernd sah ich mich um. Ich war in einem anderen Korridor gelandet, einem schier unendlich langen mit zahllosen Türen rechts und links. Die Tür, durch die ich gekommen war, hatte einen Anstrich in sattem Grün, dunkle, altmodische Metallbeschläge, einen Briefschlitz aus dem gleichen Material und einen hübschen Messing-Türknauf in Form einer gekrümmten Eidechse. Ich beschloss, wieder zurückzugehen, denn jetzt, wo ich wusste, dass ich nur träumte, machte mir Florence keine Angst mehr. Ich hatte große Lust, ihr zu zeigen, wie gut ich Kung-Fu konnte. Im Traum natürlich noch besser als in Wirklichkeit. Aber als ich gerade an der Eidechse drehte, nahm ich im Augenwinkel eine Bewegung wahr. Nebenan hatte sich eine andere Tür geöffnet, und jemand war in den Korridor getreten. Es war Grayson. Obwohl er nur ein paar Meter weiter stand, schien er mich gar nicht zu bemerken. Sorgfältig schloss er die Tür hinter sich und murmelte etwas Unverständliches vor sich hin. Dann holte er tief Luft, öffnete die Tür erneut und verschwand wieder. Ich ließ meinen Türknauf los, um mir Graysons Tür näher anzuschauen. Sie glich aufs Haar der weißlackierten Eingangstür des Spencerhauses, inklusive der Stufen davor und der übergewichtigen Steinfigur, die halb Adler, halb Löwe war. Als ich näher kam, plinkerte die Figur mit den Augen, hob eine Löwenpfote und sagte mit überraschend piepsiger Stimme: »Hier darf nur eintreten, wer meinen Namen dreimal rückwärts spricht.«
Ah, ein Rätsel. Ich liebte Rätsel. Allerdings durften sie ruhig ein wenig anspruchsvoller sein. »Du bist doch der Fürchterliche Freddy«, sagte ich.
Die Steinfigur senkte majestätisch den Schnabel. »Nur Freddy, wenn ich bitten darf.«
»Oh, aber das ist zu einfach«, sagte ich enttäuscht und fast ein wenig peinlich berührt von der Einfallslosigkeit meines Traumbewusstseins. »Ydderf, Ydderf, Ydderf.«
»Das ist richtig«, piepste Freddy. »Du kannst eintreten.«
»Na dann.« Ich gab der Tür einen Schubs. Als ich über die Schwelle trat, stand ich nicht wie erwartet im Hausflur der Spencers, sondern auf einer Wiese. Obwohl es Nacht war und ziemlich dunkel, konnte ich Bäume erkennen und Steine, die aus der Erde ragten. Ein Stück vor mir ließ Grayson den Lichtkegel einer Taschenlampe
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