Das erste Buch der Traeume
jetzt am Tisch sitzen geblieben war, sie hätte das Esszimmer nach dem großen Drama ja auch mit einem lauten Türknallen verlassen können, um sich heulend in ihrem Zimmer aufs Bett zu werfen. Das hätte ich jedenfalls an ihrer Stelle getan. Sie aber hatte bis jetzt friedlich an ihrer Wachtel geknabbert und sich sogar am Tischgespräch beteiligt, wenn auch recht einsilbig. Vielleicht hatte sie ja auch nur Angst gehabt, ihren Dad mit Mum allein zu lassen. Ernest und Mum wiederum hatten krampfhaft so getan, als wären ihre Erinnerungen an die letzte Stunde vollkommen ausgelöscht. Sie hatten über alles Mögliche geredet, nur nicht mehr über die bevorstehenden Veränderungen. Und ich hatte vor allem Graysons Ärmel im Auge gehabt, in der Hoffnung, er würde noch einmal verrutschen und die geheimnisvollen Wörter freigeben. Aber obwohl Grayson nicht weniger als vier arme Mini-Vögelchen wegspachtelte und das nicht ohne brutale Handarbeit vonstattenging (bei jedem Knochenkrachen zuckte Mia zusammen – ich glaube, sie war kurz davor, wirklich zur Vegetarierin zu werden), war das Handgelenk bedeckt geblieben.
»Florence!«, sagte Ernest vorwurfsvoll.
»Dad!«, gab Florence im gleichen Tonfall zurück.
»Schon gut«, sagte ich. »Das trocknet schon wieder.« Übermorgen oder so.
»Unsinn. Du bist vollkommen durchnässt.« Ernest hatte seine Stirn in Falten gelegt. »Florence geht jetzt nach oben und holt dir einen Pullover.«
»Florence denkt gar nicht daran«, sagte Florence und sah ihm fest in die Augen.
»Florence Cecilia Elizabeth Spencer!«
»Was willst du tun, Dad? Mich ohne Nachtisch ins Bett schicken?«
»Schon gut!« Grayson legte das Wachtelbeinchen, an dem er genagt hatte, aus der Hand und stand auf. »Sie kriegt einen von meinen Pullis.«
»Uh, wie ritterlich«, sagte Florence.
»Das ist wirklich nicht nötig«, brachte ich zähneklappernd heraus, aber da war Grayson schon durch die Tür.
»Er ist so harmoniebedürftig und konfliktscheu«, sagte Florence zu niemand Bestimmtem.
»Coole Vornamen.« Mia sah Florence mit großen Augen an. »Du hast echt Glück, weißt du das? Mum hat Livvy und mir als zweite Vornamen die Namen ihrer beiden Lieblingstanten aufgedrängt: Gertrude und Virginia .«
Für den Bruchteil einer Sekunde erhellte sich Florences Gesicht.
»Die Tanten sind nach Gertrude Stein und Virginia Woolf benannt«, sagte Mum. »Zwei großartigen Schriftstellerinnen.«
»Mit scheiß Namen«, ergänzte Mia.
Mum seufzte. »Ich denke, wir brechen jetzt besser auf. Es war ein wunderschö…« Sie brach ab und räusperte sich. Das schien wohl selbst ihr übertrieben. »Danke für das köstliche Essen, Ernest.«
»Ja, vielen Dank«, sagte Mia. »Jetzt weiß man Lotties Kochkünste doch gleich noch viel mehr zu schätzen.«
Ich hätte schwören können, dass Ernests Mundwinkel zuckten, als er sich erhob und Mum die Hand reichte. »Mrs Dimbleby hat auch ein Dessert vorbereitet, aber ich verstehe, wenn ihr lieber aufbrechen wollt … Es ist doch schon später als gedacht, und die Kinder müssen ja morgen zur Schule. Ich rufe euch ein Taxi. Es ist in zwei Minuten da.«
»Hier.« Grayson war zurückgekehrt. »Frisch gewaschen.« Er reichte mir einen grauen Kapuzenpulli, und während Ernest nach dem Taxi telefonierte, tauschte ich den Pulli auf dem Gästeklo gegen meine Bluse aus. Er roch wirklich nach Waschpulver, aber auch ein bisschen nach kross gebratener Wachtel. Ganz lecker, eigentlich.
Als ich wieder herauskam, standen alle im Flur und warteten auf mich. Nur Florence war nirgendwo zu sehen. Wahrscheinlich packte sie schon mal ihre Sachen zusammen.
Grayson grinste mich müde an. »Der steht dir super, höchstens sechs Nummern zu groß.«
»Ich mag oversize«, sagte ich und knüllte meine Bluse in den Händen zusammen. »Danke. Ich gebe ihn dir dann … irgendwann wieder.«
Er seufzte. »Wir sehen uns ja demnächst öfter, wie es aussieht.«
»Das wird wohl nicht zu vermeiden sein.« Ups, hoffentlich hatte das nicht zu sehr nach freudiger Erwartung geklungen. Ich warf einen letzten Blick auf sein Handgelenk, aber leider war die geheimnisvolle Schrift immer noch vom Ärmel verborgen.
7.
Dieses Mal setzte Mum Hänsel und Gretel respektive Mia und mich nicht im Wald, sondern in Ernests Hausflur aus, bevor sie mit den Worten »Es ist nur zu eurem Besten« hinter einer Tür verschwand.
»Hörst du das?«, fragte Mia. »Irgendwo hier gackern Wachteln.«
»Richtig!« Knarzend öffnete sich
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