Das erste Buch der Traeume
Zeugen Jehovas?«, fragte Mia scheinheilig.
Grayson schob seinen Stuhl nach hinten und stand auf, den Blick immer noch auf sein Handy gerichtet. Er hatte offensichtlich wieder mal kein Wort mitbekommen. »Ich geh schnell mal raus, um was zu klären. Sag Dad, ich bin gleich wieder da. Und ich nehme drei Wachteln, mindestens. Ich sterbe vor Hunger.«
»Du bist doch …« Florence sah ihm empört nach. »Merkst du überhaupt noch was?«
Ich räusperte mich. »Ich müsste mal zur Toilette. Wo genau …?«
»Tja, da das hier demnächst dein Zuhause ist, solltest du wohl selber in der Lage sein, die Toilette zu finden«, sagte Florence spitz.
»Stimmt«, sagte ich. So schwer konnte es ja auch nicht sein. Ich folgte Grayson hinaus in den Flur.
»Und jetzt erzähl mal, ist dein Dad ein international gesuchter Terrorist oder ein Serienmörder?«, erkundigte sich Mia hinter mir mit süßer Stimme.
Was Florence darauf antwortete, hörte ich nicht mehr.
Die erste Tür, die ich öffnete, führte zu einer Besenkammer, aber hinter der zweiten, gleich neben dem Treppenaufgang, befand sich das Gäste-WC. Ich suchte nach dem Lichtschalter.
»Nicht ausgerechnet heute Nacht, verdammt nochmal!« Durch das gekippte Fenster hörte ich Graysons Stimme. Offensichtlich telefonierte er vor dem Haus mit seinem Handy. Ich ließ das Licht ausgeschaltet und schlich mich ans Fenster, um ihn besser hören zu können.
»Ja, ich weiß, dass heute Neumond ist, aber können wir das Ganze nicht ausnahmsweise auf morgen Abend verschieben? Hier ist die Hölle los, und ich weiß nicht, ob ich heute Nacht überhaupt schlafen kann … ja, mir ist schon klar, dass man Neumond nicht meinetwegen verlegen kann, aber … nein, natürlich will ich das nicht. Okay, also, von mir aus. Sag Arthur, ich werde es versuchen … Ich hoffe, dass ich das finde … das ist sicher auf deinem Mist gewachsen, oder? Dachte ich’s mir doch … Nein, das erzähle ich dir morgen. Wenn ich jetzt nicht wieder reingehe, bringt meine Schwester mich um … ja, danke für dein Mitgefühl. Bis nachher.«
Hm. Interessant . Ich setzte mich im Dunkeln auf den Klodeckel und vergaß völlig, weswegen ich eigentlich hier war. Wider alle vernünftigen Regungen fühlte ich ein wohliges Kribbeln in mir aufsteigen. Was hatte Grayson heute Abend so sehr von unserer ganz speziellen Familientragödie abgelenkt? Welche Art von Unternehmungen konnte man nur bei Neumond durchführen? Und was bedeuteten diese lateinischen Wörter auf Graysons Handgelenk? Es lag auf der Hand: Mein zukünftiger Stiefbruder hatte ein Geheimnis – und ich liebte Geheimnisse.
Unangemessen gut gelaunt kam ich ins Esszimmer zurück, gerade noch rechtzeitig vor Grayson. Und bevor die Zeugin Jehovas und der Serienmörder in trauter Eintracht die Wachteln hereinbrachten.
Der Rest des Abends verlief vergleichsweise undramatisch. Jedenfalls bis zu dem Moment, an dem ich mein Glas mit so viel Schwung umstieß, dass meine Bluse vom Kragen bis zum Saum mit Orangensaft getränkt wurde. Da Ernest das Glas erst kurze Zeit vorher aufgefüllt und überdies mit Eiswürfeln angereichert hatte, fing ich auf der Stelle an, mit den Zähnen zu klappern.
»Darauf habe ich den ganzen Abend gewartet!«, sagte Mum mit ihrer »Ich-kann-auch-witzig-sein«-Stimme. »Gläser umzuwerfen ist nämlich eins der Spezialgebiete meiner Mäuse.«
»Mum! Als mir das das letzte Mal passiert ist, war ich sieben! Uh, was ist das?« In meinem BH schmolz ein Eiswürfel. (Hätte ich auf Lottie gehört und die oberen beiden Blusenknöpfe zugemacht, wäre das nicht passiert.) Ich fischte ihn hastig heraus und legte ihn auf den Teller, egal, ob sich das gehörte oder nicht. Nach Florences und Graysons Blicken zu urteilen, gehörte es sich nicht.
»Ja, genau«, sagte Mia. »Wenn überhaupt, dann ist das mein Spezialgebiet.«
»Cola! Quer über meine Computertastatur«, erinnerte sich Mum. »Und Johannisbeerschorle über blütenweiße Tischdecken. Diverse Smoothies, gerne auch auf Teppiche.«
Ich traute mich nicht, die Bluse auszuwringen, weil ich sonst den Perserteppich damit getränkt hätte, der teuer aussah.
Ernest musterte mich mitleidig. »Florence, sei doch so lieb und hol Liv eins von deinen Oberteilen, so kann sie nicht nach Hause fahren. Sie friert ja.«
»Verstehe!« Florence verschränkte die Arme. »Erst soll ich meine Zimmer abtreten und jetzt auch noch meine Klamotten, ja?«
Man musste es Florence hoch anrechnen, dass sie überhaupt bis
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