Das erste Buch der Traeume
er irritiert. »Wieso verschwindet sie nicht?«
»Vielleicht weil ich nicht auf den Namen Käsemädchen höre, du Blödmann«, sagte ich.
Grayson räusperte sich. »Ich fürchte, sie äh … sie ist mit mir hier, Henry.« Seinem Tonfall nach zu urteilen, schien ihm das irgendwie peinlich zu sein.
»Du kennst mein Käsemädchen?«, fragte Henry verdutzt.
»Ja, sieht wohl so aus.« Grayson rieb sich wieder mit dem Handrücken über die Stirn. »Sie ist, wie ich seit heute Abend weiß, meine neue kleine Schwester.«
»Ach du Scheiße!« Henry machte ein betroffenes Gesicht. »Du meinst …?«
Grayson nickte. »Ich hab dir doch gesagt, bei uns zu Hause ist die Hölle los. War ein super Dinner. Florence ist total ausgerastet, als Dad uns mitgeteilt hat, dass die Professorin, ihre beiden Töchter, ihr Kindermädchen und ihr Dackel bei uns einziehen werden. In zwei Wochen.«
»Buttercup ist doch kein Dackel«, sagte ich empört. »Höchstens zu einem Zehntel.«
Die beiden schenkten mir keinerlei Beachtung. »Hey, das tut mir wirklich leid. Auch das noch.« Henry hatte mitleidig einen Arm um Graysons Schulter gelegt. Nebeneinander gingen sie in die Richtung, aus der Henry gekommen war, einen überwucherten Schotterweg entlang. Ich trippelte hinter ihnen her.
»Dann ist es deinem Dad also wirklich ernst. Kein Wunder, dass du von ihr träumst.« Henry drehte sich zu mir um. »Obwohl du es wahrscheinlich schlechter hättest treffen können – sie ist irgendwie süß, oder?«
Grayson drehte ebenfalls den Kopf. »Und sie folgt uns immer noch.«
»Ja. Allein ist es ihr hier nämlich ein bisschen unheimlich«, sagte ich. »Außerdem möchte ich wirklich gerne wissen, was ihr vorhabt.«
»Du musst sie wegschicken«, sagte Henry zu Grayson. »Sehr energisch! Hat bei mir vorhin mit Plum auch geklappt. Er hat sich in kringelige Rauchschwaden aufgelöst. Du könntest sie natürlich auch in einen Grabstein verwandeln oder in einen Baum, aber für den Anfang wird Wegschicken wohl genügen.«
»Okay.« Grayson war stehen geblieben und wartete, bis ich ihn eingeholt hatte. Dabei seufzte er sehr tief. »Was machen wir denn hier eigentlich, Henry? Das ist doch alles wahnsinnig .«
»Ja, allerdings.«
Grayson sah sich um. »Hast du denn keine Angst?«, flüsterte er dann.
»Doch«, antwortete Henry ernst. »Aber ich habe noch viel mehr Angst davor, was passiert, wenn wir das hier nicht machen …«
»Das ist ein Albtraum«, sagte Grayson, und Henry nickte.
»Na, jetzt übertreibt aber mal nicht, Jungs«, sagte ich. »Ihr spaziert ganz gemütlich bei Nacht über einen berühmten Friedhof, und ich bin auch dabei – andere würden so einen Traum richtig nett finden.«
Grayson stöhnte. »Du bist ja immer noch da.«
»Schick sie einfach weg«, sagte Henry. »Konzentrier dich darauf, dass sie verschwindet.«
»Also gut.« Grayson sah mir fest in die Augen. Weil es nur ein Traum war, sah ich genauso intensiv zurück. So hemmungslos hatte ich mich das vorhin beim Abendessen nicht getraut, außerdem hatte ich da auch mehr sein Handgelenk im Auge gehabt. Aber jetzt musste ich feststellen, dass mein künftiger Stiefbruder doch verdammt gut aussah, trotz seiner Ähnlichkeit mit Ernest und Florence. Alles, was bei Florence weich und rund war, war bei ihm hart und kantig, besonders das Kinn. Am schönsten waren seine Augen, die in diesem Dämmerlicht die Farbe von Karamellbonbons hatten. Graysons Blick wurde ein wenig verschwommen und wanderte langsam von meinen Augen zu meinen Lippen.
Hah! Schöner Traum. Wirklich schöner Traum. Hoffentlich tauchte Lottie jetzt nicht mit diesem Beil auf.
Henry räusperte sich. »Grayson?«
»Ähm, ja.« War da etwa ein Hauch Rosa auf Graysons Wangen zu sehen? Er schüttelte den Kopf. »Bitte, geh jetzt, Liv.«
»Erst, wenn du mir sagst, was auf deinem Handgelenk steht«, sagte ich, um meine eigene Verlegenheit zu überspielen. » Sub um … – und wie weiter?«
»Was?«
»Sub umbra floreo« , antwortete Henry an Graysons Stelle. »Du musst energischer sein, Grayson, du musst es auch wirklich wollen.«
»Ich will es ja!«, versicherte Grayson. »Aber sie ist irgendwie so …«
»Ich weiß, was du meinst«, sagte Henry. Dann stutzte er. »Ist das etwa dein Sweatshirt, das sie da anhat?«
Ich sah betreten an mir herab. Ich trug tatsächlich Graysons Kapuzenpulli. Und zwar über meinem Nachthemd. Beim Einschlafen war mir so kalt gewesen, dass ich wieder aufgestanden war, um mir den Pulli
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