Das erste Buch der Traeume
überzuziehen. Außer Nachthemd und Pulli trug ich nur noch flauschige graue Socken mit Pünktchenmuster. Das war typisch für meine Träume: Nie war ich passend gekleidet.
Grayson stöhnte. »Ja, möglicherweise ist das mein Sweatshirt«, gab er zu. »Oh Gott, ich hasse mein Unterbewusstsein. Warum tut es so etwas?«
»Na komm schon – es könnte noch viel, viel peinlicher sein. Denk nur an den armen Jasper und Mrs Beckett im Bikini.« Henry lachte. »Und jetzt beeil dich, Jasper und Arthur warten sicher schon. Das heißt, falls Jasper es überhaupt hierher geschafft hat.«
»Hoffentlich nicht«, murmelte Grayson. »Dann hätten wir vielleicht noch mal eine Gnadenfrist bis zum nächsten Neumond …«
» Sub umbra floreo – was soll das heißen? Unter Blumenerde?«, fragte ich.
Henry kicherte.
»Ich hatte nur ein halbes Jahr Latein«, sagte ich ein wenig beleidigt. »Und das ist ewig her, da ist nicht so viel hängengeblieben.«
»Ja, das merkt man«, sagte Henry.
Grayson schüttelte verärgert den Kopf. »Es reicht jetzt wirklich. Geh weg, Liv!«, sagte er mit Nachdruck. »Verschwinde von hier.«
Henry sah mich gespannt an. Wahrscheinlich erwartete er, dass ich mich in Rauchschwaden auflöste.
»Na gut«, sagte ich, als nichts dergleichen passierte und Graysons Gesicht einen Ausdruck von Verzweiflung annahm. »Wenn ihr mich nicht dabeihaben wollt, geh ich eben. Viel Spaß noch.« Ich drehte mich auf dem Absatz um und stapfte den Kiesweg hinab. Über meine Schulter hinweg sah ich, dass Grayson und Henry mir noch ein paar Sekunden lang nachschauten und dann ihren Weg in die entgegengesetzte Richtung fortsetzten. Kaum, dass sie das taten, machte ich zwei Schritte seitwärts und ging hinter einem dicken Baumstamm in Deckung. Dachten die etwa, sie könnten mich so einfach abschütteln? Doch nicht jetzt, wo der Traum erst so richtig interessant wurde.
8.
Das machte Spaß! Das machte so was von Spaß. Während ich Grayson und Henry hinterherschlich, fühlte ich mich wie Catwoman. Oder wie James Bond. Oder wie eine Kreuzung aus beiden. Am coolsten war meine verschärfte Sehkraft. Weit und breit gab es keine brennende Laterne, nicht mal der Mond schien am Himmel, trotzdem konnte ich alles deutlich erkennen, herunterhängenden Zweigen ausweichen und Steinen, die im Weg herumlagen. Wegen der Flauschsockensohlen unter meinen Füßen war ich so leise unterwegs, dass ich mich bis auf wenige Meter an die beiden heranpirschen konnte, immer schon das nächste Versteck im Auge. Ich wunderte mich nur, dass ich noch nicht aufgewacht war. Normalerweise dauerten diese Art Traumphasen, in denen ich genau wusste, dass ich träumte, nie lange an, vor allem nicht, wenn es sich um einen so unterhaltsamen Traum handelte wie diesen hier.
»Da seid ihr ja!« Der Lichtkegel von Graysons Taschenlampe hatte zwei weitere Gestalten erfasst, Arthur und Jasper, wie ich annahm. Ich tauchte mit einer filmreifen Judorolle hinter einem Grabstein ab, nur für den Fall, dass sie ebenfalls katzenartige Sehkräfte entwickelt hatten. Vorsichtig hob ich den Kopf so, dass ich gerade über die Grabsteinkante spähen konnte. Wie gesagt, ich hatte Spaß.
»Ihr werdet es nicht glauben, aber Jasper hat vor dem Tor gestanden und konnte nicht rein.« Das kam von Arthur, wenn ich richtiglag.
»Es war abgeschlossen.« Die etwas weinerliche Stimme gehörte Rasierspaß-Ken, der zu meiner Freude einen karierten Flanellschlafanzug trug. Wenigstens war ich so nicht die Einzige, die unpassend gekleidet war. Den anderen Jungen, Arthur, hatte ich ebenfalls schon einmal gesehen, am Morgen in der Schule: Es war der mit den blonden Locken, der wie ein Engel aussah. Geradezu überirdisch schön.
»Ich wollte über die Mauer klettern, aber da war ein Nachtwächter mit einem Hund … und Stacheldraht …«
»Das ist ein Traum, Jasper!«, sagte Henry ungeduldig. »Da musst du nicht durch das Eingangstor kommen. Und du musst auch keine Angst vor Nachtwächtern haben, denn alles, was du siehst, solange du allein bist, sind lediglich Schöpfungen deines eigenen Vorstellungsvermögens. Wie oft soll ich dir das denn noch erklären?« Er sah sich um, und ich zog rasch den Kopf ein. »Ich hoffe, dein Nachtwächter wird uns hier nicht belästigen. Wir mussten gerade schon andere Störungen … äh … beseitigen.«
Damit war wohl ich gemeint. Frechheit.
»Keine Sorge, um den Mann und seinen Hund haben wir uns gekümmert«, sagte Arthur.
»Ja, das war cool«, sagte Jasper.
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