Das erste Buch der Traeume
über den Boden huschen.
Diese Traumwendung war definitiv cooler als meine Hänsel-und-Gretel-Variante von vorhin.
»Ist das ein Friedhof ?«, fragte ich.
Grayson fuhr herum, leuchtete mit der Taschenlampe in mein Gesicht und stieß einen kleinen Schreckenslaut aus.
Ich lächelte ihn an.
»Was zur Hölle hast du denn hier verloren?« Mit seiner freien Hand rieb er sich über die Stirn. »Bitte geh wieder.«
»Ja, es ist ein Friedhof«, gab ich mir selber Antwort. Weiter hinten konnte ich nämlich die Silhouetten diverser Steinkreuze, -säulen und -figuren erkennen. Meine Sehkraft war überhaupt sensationell und verbesserte sich von Sekunde zu Sekunde stark. »Wir sind auf dem Highgate Cemetery, oder?«
Grayson ignorierte mich. Er senkte den Strahl der Taschenlampe auf eine Grabplatte am Boden.
»Wie cool. Ich kenne Highgate nur von Fotos, aber ich wollte es unbedingt mal besichtigen«, sagte ich. »Wenn auch nicht bei Nacht.«
Grayson knurrte unwillig. »Ich ganz bestimmt auch nicht. Das ist doch wieder mal ein total bekloppter Treffpunkt«, sagte er, allerdings mehr zu sich selber als zu mir. »Als ob es nicht alles schon unheimlich genug wäre. Außerdem sieht man hier ja nicht einen Meter weit.«
»Ich schon.« Ich musste mich zügeln, um vor Begeisterung darüber nicht auf und ab zu hüpfen. »Ich kann im Dunkeln sehen wie eine Katze. Zwar nur im Traum, aber es ist toll. Normalerweise bin ich ohne Brille oder Kontaktlinsen blind wie ein Maulwurf. Wonach suchen wir denn?«
» Wir suchen gar nichts.« Grayson hörte sich ziemlich genervt an. Mit seiner Taschenlampe leuchtete er die Inschriften der Grabsteine und -platten neben dem Weg ab. Sie schienen uralt zu sein, viele waren geborsten oder mit Efeu überwuchert, andere wurden von bemoosten Engelstatuen bewacht. Nebelfetzen waberten stilecht über den Boden, und der Wind brachte die Blätter in den Bäumen zum Rascheln. Bestimmt gab es hier auch Ratten. Und Spinnen. » Ich suche das Grab von Christina Rossetti.«
»Eine Freundin von dir?«
Grayson schnaubte, aber wenigstens antwortete er diesmal. Es klang resigniert, als hätte er sich mit meiner Anwesenheit abgefunden. »Christina Rossetti war eine viktorianische Dichterin. Musstest du nie eins ihrer Gedichte analysieren? Where sunless rivers weep their waves into the deep … blabla, irgendwas mit Stern, Schatten und Nachtigall.«
»She sleeps a charmed sleep. Awake her not.« Aus dem Schatten einer Trauerweide löste sich eine Gestalt und kam deklamierend auf uns zu. Es war der Junge, dem ich heute in der Schule die Pampelmuse weggefangen hatte, der Typ aus dem Flugzeug mit dem verstrubbelten Haar. Nett, dass er auch in diesem Traum vorkam, ich hatte ihn nämlich zwischenzeitlich schon wieder ganz vergessen. »Led by a single star, she came from very far to seek where shadows are her pleasant lot.«
Hm, nicht mal schlecht – Jungs, die Gedichte rezitieren konnten. Wenigstens im Traum gab es sie also.
»Henry«, begrüßte Grayson den Neuankömmling erleichtert.
»Wo bleibst du denn, Mann? Das Rossetti-Grab ist da hinten.« Henry zeigte irgendwo hinter sich. »Ich habe doch gesagt, du sollst dich an dem gruseligen Kapuzenengel orientieren.«
»Die sind alle gruselig im Dunkeln.« Grayson und der Neuankömmling vollzogen so eine Art Kindergarten-Begrüßungsspielchen mit ihren Händen, eine Mischung aus High Five, Fingerhakeln und Händeschütteln. Niedlich. »Gottseidank bist du da, ich wäre sonst noch ewig hier herumgeirrt.«
»Ja, so was hab ich mir schon gedacht. Jasper hat es auch noch nicht gefunden, Arthur sucht nach ihm. Wen hast du denn da bei dir?« Henrys Augen schienen im Dunkeln nicht so gut zu funktionieren wie meine, er hatte mich nicht sofort erkannt. Jetzt aber stöhnte er laut auf. »Warum träume ich denn jetzt bitte von dem Käsemädchen ? Vorhin ist mir schon Plum begegnet, mein Kater, der überfahren wurde, als ich zwölf war. Er ist mir schnurrend um die Beine gestrichen.«
»Oh, wie süß«, sagte ich.
»Nein, kein bisschen süß. Er sah genauso aus, wie ich ihn das letzte Mal gesehen habe: voller Blut und mit herausquellendem Gedärm …« Henry schüttelte sich. »Dagegen bist du ein wirklich erfreulicher Anblick. Trotzdem … geh jetzt, ich weiß gar nicht, was du hier zu suchen hast. Verschwinde!« Er machte eine Handbewegung, als wollte er eine lästige Fliege verscheuchen. »Ich sagte, verschwinde , Käsemädchen! Hau ab!« Als ich mich nicht rührte, wirkte
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