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Das erste Buch der Traeume

Das erste Buch der Traeume

Titel: Das erste Buch der Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Gier
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schauen, was dann passierte.
    Und ob überhaupt etwas passierte.

14.
    Die grüne Tür leuchtete mir in einem öden Straßenzug mit lauter grauen, schäbigen Reihenhäusern entgegen. Ich hatte keine Ahnung, was ich bisher geträumt hatte, aber in dem Moment, als ich die Tür erblickte, saß ich auf einem Fahrrad und musste einen schwerbeladenen Anhänger ziehen. Bergauf.
    Die Tür! Das letzte Mal hatte sie mich in den Traum auf dem Friedhof geführt.
    Mum überholte mich. Auch sie trat in die Pedale eines Fahrrads mit Anhänger. »Keine Müdigkeit vorschützen«, rief sie mir zu.
    »Was tun wir denn hier?«, fragte ich.
    »Umziehen«, antwortete Mum über ihre Schulter. »Wie immer.«
    »Verstehe.« Ich bremste ab und stieg vom Fahrrad, um mir die grüne Tür näher anzuschauen. Ja, es war ohne Zweifel dieselbe Tür wie beim letzten Mal, die, die auch bei Tante Gertrude im Esszimmer aufgetaucht war. Plötzlich war mir sonnenklar: Wenn ich wissen wollte, was es mit diesen rätselhaften Träumen auf sich hatte, dann musste ich sie öffnen. Und hindurchgehen.
    Wenn ich den Mut dazu hatte.
    »Nicht ausruhen, kleine Trödelmaus«, rief Mum. »Wir müssen weiter! Wir müssen immer weiter.«
    »Ohne mich, heute«, sagte ich. Der Eidechsentürknauf fühlte sich warm an, als ich an ihm drehte. Mit einem tiefen Atemzug trat ich über die Schwelle.
    »Olivia Gertrude Silber! Du kommst sofort zurück«, hörte ich meine Mum noch rufen, bevor ich ihr die Tür einfach vor der Nase zuschlug. Wie beim letzten Mal stand ich auch jetzt in einem Korridor, der sich in die Unendlichkeit auszudehnen schien. Fasziniert betrachtete ich die unzähligen Türen. Wie Fenster in einem Adventskalender wirkten sie und genauso individuell, was Größe, Form und Farbe anging. Da gab es schlichte, weißgestrichene Zimmertüren, moderne Haustüren, und welche, die wie Lifttüren aussahen, ohne jeden Schnickschnack. Andere hätten auch Ladeneingänge sein können oder prunkvolle Portale zu Burgen und Schlössern. Die leuchtend rote Tür gegenüber schien neu zu sein, jedenfalls konnte ich mich nicht erinnern, sie bei meinem letzten Besuch hier gesehen zu haben. Es war eine sehr auffällige Tür, unverwechselbar mit dem protzigen, goldenen Türknauf in Form einer Krone. Graysons Tür, die sich direkt neben meiner befunden hatte, entdeckte ich erst, als ich ein Stückchen weiter den Korridor herunterging. Die Türen blieben hier also offenbar nicht am selben Fleck, sondern spielten eine Art Bäumchen-wechsel-dich-Spiel. Neben Graysons Tür entdeckte ich eine hellgrau lackierte Tür mit Glasfenstern, auf denen ein verschnörkelter Schriftzug zu lesen war. »Matthews’-Mondschein-Antiquariat – Bücher fürs Leben. Öffnungszeiten: Von Mitternacht bis Morgengrauen.« Das klang verlockend. Für einen Moment war ich versucht, die Klinke herunterzudrücken, um mir das Antiquariat von innen anzuschauen, aber dann rief ich mir in Erinnerung, warum ich hier war, und ging weiter zu Graysons Tür. Sie sah noch genauso aus wie in meinem letzten Traum, eine originalgetreue Kopie der Eingangstür des Spencerhauses. Der Fürchterliche Freddy spreizte die Flügel und piepste: »Hier wird nur demjenigen Durchgang gewährt, der meinen Namen dreimal rückwärts spricht.«
    »Ydderf, Ydderf, Ydderf«, sagte ich, und da faltete Freddy die Flügel wieder zusammen und schlang den Löwenschwanz um seine Füße.
    »Der Eintritt sei dir gewährt«, piepste er feierlich.
    Ich zögerte. Irgendwie hatte ich das Gefühl, mich für das Kommende noch besser wappnen zu müssen. Was auch immer das Kommende sein würde. Vielleicht sollte ich Lotties Beil aus dem letzten Traum imaginieren. Oder mir wenigstens ein scharfes Messer in meine Tasche träumen. Oder Knoblauch um den Hals hängen, oder …
    »Worauf wartest du denn?«, wollte der Fürchterliche Freddy wissen.
    »Ich gehe ja schon.« Wenn es zu gefährlich wurde, konnte ich ja immer noch einfach aufwachen. Das hatte beim letzten Mal auch geklappt. (Und dieses Mal hatte ich den Fußboden neben meinem Bett sicherheitshalber mit Kissen gepolstert.) Ich holte tief Luft und trat über die Schwelle. Statt Dunkelheit und gespenstischer Friedhofsruhe empfing mich helles Licht, vielstimmiges Geschrei und blechernes Gerassel. Mein Fuß trat ins Leere, ich verlor das Gleichgewicht und griff nach dem Nächstbesten, an dem ich mich festhalten konnte. Es war die Schulter eines rothaarigen Mädchens.
    »Pass doch auf«, sagte sie, schenkte mir

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