Das erste Buch der Traeume
mich. Träume waren genauso individuell wie Gedanken. Oder, wie Carl Gustav Jung, laut Internet der Experte in Sachen Traum und Traumdeutung, es formuliert hatte: Träume waren unparteiische, der Willkür des Bewusstseins entzogene, spontane Produkte der unbewussten Seele. Bei Jung gab es auch sogenannte archetypische Träume, die aus einem kollektiven Unterbewusstsein kamen und Offenbarungen unserer uralten Stammes- und Menschheitsgeschichte darstellten. Das Wort »kollektiv« stimmte mich schon hoffnungsfroh, aber beim Weiterlesen musste ich leider feststellen, dass sich mein Friedhofstraum nur mit viel gutem Willen in die Kategorie der archetypischen Träume einordnen ließ – schon deshalb, weil die Archetypen fehlten. Keine Begegnung mit einem alten Mann, keine Abstiege in Erdlöcher, kein fließendes Wasser … Und was weise Botschaften aus uraltem Menschheitswissen anging – in diesem Traum wohl eher Fehlanzeige.
Je später es wurde, desto planloser sprang ich von Webseite zu Webseite. Die Suchmaschine spuckte ein Gedicht von Rilke aus.
Und sagen sie, das Leben sei ein Traum: das nicht;
nicht Traum allein. Traum ist ein Stück vom Leben.
Ein wirres Stück, in welchem sich Gesicht
und Sein verbeißt und ineinanderflicht (…)
Ja, ganz meine Meinung, da sprach Rilke mir aus der Seele, jedenfalls mit dem »wirren Stück«. Ich gähnte. Ich war einfach hundemüde, und der Akku vom iPad auch. Es gab seinen Geist auf, als ich über die Suchworte »Tür« und »Träume« auf der Webseite einer Schreinerei gelandet war. »Wenn Sie sich nicht mit Baumarktware zufriedengeben – wir fertigen die Tür Ihrer Träume.«
Ich zog meine Knie bis zum Kinn und schlang die Arme darum. Vielleicht verlor ich ja einfach nur meinen Verstand? Das wäre wenigstens eine logische Erklärung gewesen – und ich sehnte mich nach einer logischen Erklärung.
Und nach Schlaf. Sobald ich noch ein bisschen nachgedacht hatte …
Ich musste im Sitzen eingeschlafen sein, denn als ich am nächsten Morgen mit Mia zur Bushaltestelle lief, erinnerte ich mich leider nicht mehr daran, noch einen einzigen klaren Gedanken gefasst zu haben. Auch an meine Träume erinnerte ich mich kaum, nur, dass es lauter zusammenhangloses Zeug gewesen war, irgendwas mit einer Straßenbahn und Bären. Unmittelbar vor dem Aufwachen hatte ich von einem Besuch bei Tante Gertrude in Boston geträumt, wir mussten Fischsuppe essen, und Emma Watson war auch da und trug meine Brille. Als ob das noch nicht seltsam genug gewesen wäre, hatte sich mitten an Tante Gertrudes blau-golden tapezierter Esszimmerwand meine grüne Tür aus dem letzten Traum befunden, die mit dem Eidechsentürknauf. Tante Gertrude schien darüber sehr verärgert zu sein. Sie sagte mehrmals, dass die Tür so gar nicht in ihr Farbkonzept passe und dass ich gefälligst auch die Tintenfische mitessen solle, die sollten schließlich nicht umsonst gestorben sein. Und dann war ich aufgewacht.
»Das ist ein wirklich spektakulärer Fall.« Mia hüpfte neben mir über die Fugen zwischen den Gehwegplatten. Sie war ausgesprochen gut gelaunt. Und im Gegensatz zu mir hellwach. »Aber diese Secrecy wird nicht mehr lange anonym bleiben, denn jetzt hat sich Ermittlerin Mia Silber der Sache angenommen.« Die Entdeckung des Tittle-Tattle-Blogs gestern hatte Mia in noch größere Aufregung versetzt als mich. Sie liebte Geheimnisse mindestens so sehr wie ich, und Secrecy war in der Tat eine große Herausforderung für unsere angeborene Neugier.
Ein roter Doppeldeckerbus bremste ein paar Meter weiter vorn, und Mia begann zu laufen, während ich noch die Nummer kontrollierte.
»Müssen wir nicht auf die 603 warten?«
»Nein, die 210 fährt in dieselbe Richtung«, behauptete Mia, schon halb im Bus verschwunden.
»Wie sicher bist du dir da?«
»Zu siebzig Prozent«, sagte Mia sorglos. »Komm schon! Diesmal will ich oben sitzen.«
Ich folgte ihr seufzend in den Bus und die Treppe hinauf, wo sie wie ein Aal an einem Mann mit Hut vorbeiglitt, um uns zwei Sitzplätze ganz vorne zu sichern.
»Ich bringe dich um, wenn wir im falschen Bus sitzen«, sagte ich.
»Ein bisschen mehr Vertrauen in Ermittlerin Mia Silber, bitte.« Mia streckte zufrieden ihre Beine aus. »Bis Weihnachten habe ich den Fall gelöst«, versicherte sie mir feierlich. »Du darfst gerne meine Assistentin sein. Und mein Lockvogel, natürlich.«
»Ich weiß nicht, Ermittlerin Mia Silber – Secrecy scheint mir mit allen Wassern gewaschen zu
Weitere Kostenlose Bücher