Das erste Buch der Traeume
hatte ich am Morgen danach auf einem Foto im Tittle-Tattle-Blog eindeutig wiedererkannt, und nur eine halbe Stunde später hatte ich sie höchstselbst auf dem Schulhof stehen sehen. Mit Grayson. Es handelte sich um Emily Clark, die Chefredakteurin der Schülerzeitschrift »reflexx«. Also zugleich Graysons Freundin und seine Vorgesetzte, wenn man Secrecy glauben konnte. Mia hatte Emily nach dieser Entdeckung gleich ganz oben auf ihre Liste mit den Namen der Verdächtigen geschrieben, die als Secrecy in Frage kamen. Das ergab durchaus Sinn, denn erstens verfügte Emily als Chefredakteurin der Schülerzeitschrift über viele Informationen und hatte Zugang zu diversen Quellen, zweitens konnte sie schreiben, und drittens stand sie Florence und Grayson sehr nahe und gehörte damit sicher zu den Allerersten, die Neuigkeiten aus dem Hause Spencer erfuhren.
Und auch Anabel Scott, Arthurs Freundin (oder auch Ex, so sicher konnte man sich da laut Secrecy ja nicht sein), hatte ich in der Nacht von Freitag auf Samstag im Traum kennengelernt, laut Traumprotokoll zwischen drei und vier Uhr, und das war die interessanteste Begegnung von allen gewesen. Allein deswegen hatte sich die ganze Mühe wohl doch irgendwie gelohnt.
Wieder war ich im Traum mit einem philosophierenden Mr Wu Seilbahn gefahren und deshalb bereitwillig durch die grüne Tür in den Korridor getreten. Nachdem ich pflichtschuldigst – ich trug den Pullover nicht – Smalltalk mit dem Fürchterlichen Freddy gehalten und an Graysons Tür gerüttelt hatte, spazierte ich ziellos durch den Korridor, betrachtete die Türen und überlegte, wem sie wohl gehören würden. Matthews’-Mondschein-Antiquariat (verschlossen) war selbstverständlich der Eingang zu Mums Träumen, und ich konnte mir vorstellen, dass die efeuberankte, himmelblau lackierte Tür mit den geschnitzten Eulen über dem Sims Mia gehörte, zumal ein Topf mit Vergissmeinnicht davorstand, und das waren Mias Lieblingsblumen. Auch an Henrys Tür kam ich wieder vorbei, und als ich – schließlich war das hier eine Versuchsreihe – die Türklinke herunterdrückte, sprach mich von hinten jemand an.
»Er vergisst niemals abzuschließen«, sagte eine sanfte Mädchenstimme.
Ich fuhr herum, die Hand auf mein rasendes Herz gelegt.
»Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte das Mädchen. Sie war klein und zierlich. Goldblonde, wellige Haare umrahmten ihr ebenmäßiges Gesicht und flossen über ihre schmalen Schultern bis beinahe zur Taille.
»Du siehst aus wie die Venus von Botticelli«, entfuhr es mir.
»Ja, aber nur, wenn ich nackt in einer Muschel rumstehe.« Das Mädchen lächelte und streckte mir ihre Hand hin. »Hi. Ich bin Anabel Scott. Bist du eine Freundin von Henry?«
»Äh … nicht direkt.« Ich musste mich zusammennehmen, um sie nicht anzustarren. Anabel Scott war eins von Secrecys beliebtesten Klatschthemen und jemand, auf den ich – zugegeben – auch schon sehr neugierig geworden war. Sie war makellos, von Kopf bis Fuß, kein Wunder, dass Arthur sich in sie verliebt hatte. Zumindest rein optisch waren sie ein perfektes Paar.
Ich erwiderte ihr Lächeln, nahm ihre immer noch ausgestreckte Hand und schüttelte sie, wobei ich mir äußerst merkwürdig vorkam. Aber, hey, das war eben ein höflicher Traum. Kurz überlegte ich, was ich jetzt sagen sollte. Nett, dich kennenzulernen, auch wenn es nur im Traum ist. Studierst du nicht in der Schweiz? Liegst du da jetzt gerade im Bett und schläfst? Und stimmen die Gerüchte, dass Arthur und du euch trennen werdet? Stattdessen sagte ich: »Liv Silber. Ich bin äh neu … äh … hier.« In diesem Korridor.
Anabels grüne Augen weiteten sich. »Dann bist du das Mädchen, von dem Arthur gesprochen hat … Das uns helfen kann …«
»Wobei helfen?«
Sie sah sich vorsichtig um, und ich fragte mich, was sie erwartete. Dass der Fürchterliche Freddy sich heimlich anschlich, um uns von hinten in den Popo zu zwicken?
»Eigentlich darf ich dir das nicht sagen«, flüsterte sie schließlich und biss sich auf die perfekt geschwungene Unterlippe. »Aber schließlich ist es meine Schuld, dass die Jungs in diese Situation geraten sind.«
Manche Sätze haben eine unwiderstehliche Wirkung auf mich, ob in Wirklichkeit oder im Traum. »Eigentlich darf ich dir das nicht sagen« gehörte auf jeden Fall dazu, es kam gleich nach »Halt dich besser von uns fern«.
»Du hast recht«, flüsterte ich zurück. »Es ist bestimmt sicherer, wenn du nicht
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