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Das erste Buch der Traeume

Das erste Buch der Traeume

Titel: Das erste Buch der Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Gier
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Punk, Folklore und Minimalismus … unglaublich extravagant.«
    »Nicht dein Ernst«, flüsterte ich zurück. Das Bühnenbild war grauenhaft. Nichts passte zueinander und schon gar nicht zu Hamlet. Der jetzt stinkwütend auf Florence war, weil sie sich eine Hand auf die Brust legte und schadenfroh »Sein oder nicht sein!« rief.
    »Jetzt reicht’s! Ich sollte nicht den armen Polonius erdolchen, sondern Euch!«, brüllte Hamlet, fasste Florence an der Kehle und drückte sie mit dem Rücken gegen eine leuchtend grün lackierte Tür in der Kulissenwand. »Ach was, wozu brauche ich einen Dolch, ich erwürge Euch mit bloßen Händen.«
    »Jetzt bekommt es einen Hauch von Othello«, sagte Lottie beeindruckt. »Hey, wo willst du hin, Liv? Und seit wann kannst du fliegen?«
    »Das kann ich nur im Traum«, versicherte ich ihr und steuerte zielsicher durch die Luft auf meine grüne Tür zu, ganz ohne mit den Flügeln zu schlagen, denn ich hatte überhaupt keine.
    Als ich auf der Bühne landete, klatschte Lottie laut Beifall, und Florence, deren Kehle immer noch vom wütenden Hamlet zusammengedrückt wurde, krächzte: »Ich bin nicht der Frauen Elendeste und Ärmste, du Arsch, wehe nicht mir, wehe dir!« Und dann rammte sie Hamlet ihr Knie in den Magen.
    Eigentlich hätte ich ja schwören können, dass ich heute Nacht von blutigen Damastklingen träumen würde oder alternativ von Wesen mit Hörnern, die sich aus fremdartigen Kreidezeichen erhoben, um von mir das Liebste, das ich hatte, zu fordern, aber nein, stattdessen fand ich mich in dieser Endlosschleife alberner Hamlet-Träume wieder, die mich schon die ganze Woche gequält hatten. Was das über meinen Seelenzustand verriet, wollte ich lieber gar nicht wissen.
    Nichts wie raus hier. Ich schob Florence und Hamlet beiseite, um den Eidechsentürknauf zu drehen und hinaus in den Korridor zu treten. Als ich die Tür hinter mir schloss, trat wohltuende Stille ein.
    Vorsichtig sah ich mich nach allen Seiten um. Außer mir schien niemand hier zu sein, jedenfalls nicht, so weit ich blicken konnte. Henrys schwarze Tür befand sich wieder gegenüber meiner, in direkter Nachbarschaft zu Graysons Tür. Der Fürchterliche Freddy senkte majestätisch den Schnabel, als ich zu ihm hinüberwinkte. Ich hätte Grayson im Traum jederzeit einen Besuch abstatten können, denn ich war wieder im Besitz eines persönlichen Gegenstands. Am Nachmittag hatte ich mir eins von seinen T-Shirts aus dem Wäschekorb im Bad geangelt, eins von den dunkelblauen, die zur Schuluniform gehörten und von denen er sicher ein Dutzend besaß, so dass er das Fehlen dieses einen gar nicht bemerken würde. Aber ich glaubte nicht, dass Graysons Träume mich heute Nacht weiterbringen würden.
    Unschlüssig schlenderte ich ein paar Schritte auf und ab, ohne so recht zu wissen, auf was ich eigentlich wartete. Oder auf wen. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich schon schlief. Grayson und ich waren kurz vor Mitternacht nach Hause gekommen und sofort ins Bett gegangen. Nach Hause – ein komisches Gefühl. So ganz war es bei mir noch nicht angekommen. Noch fühlte es sich an, als sei ich bei den Spencers nur zu Gast.
    Im Traumkorridor rührte sich immer noch nichts. Neben der himmelblauen Tür mit den geschnitzten Eulen, die ich für den Eingang zu Mias Träumen hielt, entdeckte ich eine weihnachtlich geschmückte Ladentür aus Kiefernholz. Eine Tannengirlande mit roten Samtschleifen umkränzte den Türrahmen. Noch bevor ich das Schild entzifferte, wusste ich, wem die Tür gehörte. »Lotties Liebesbäckerei – Lieferanten bitte den Hintereingang benutzen«. Ich seufzte gerührt. Lottie war so süß! Ich wollte mich gerade auf ihrer Türschwelle niederlassen, direkt unter einem Mistelzweig – sehr praktisch, falls Henry einen Anlass brauchte, um mich noch einmal zu küssen (Herrlich, diese angelsächsischen Weihnachtsbräuche!), als ich Schritte näher kommen hörte.
    Aber es war nicht Henry, wie ich insgeheim gehofft hatte, sondern Anabel.
    »Ich hab dich gesucht«, sagte sie mit ihrer lieblichen Stimme.
    Ich hätte sie auch gesucht, wenn ich nur gewusst hätte wo, denn seit unserer letzten Begegnung brannte ich darauf, mehr von ihr zu erfahren.
    Wie beim letzten Mal sah sie einfach umwerfend aus. Zu Jeans und flachen Ballerinas trug sie einen tief ausgeschnittenen Pullover, der die gleiche Farbe hatte wie ihre Augen, ein intensives Türkisgrün.
    »Tut mir leid, dass ich bei unserem letzten Treffen nicht mit dem nötigen

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