Das erste Buch der Traeume
so intensiv, als hätte jemand den Farbregler des Fernsehers bis zum Anschlag aufgedreht. Überall blühten Blumen, die Blätter der Bäume waren nicht nur grün, sondern manchmal auch gelb und pink, und in der Ferne konnte man die Türme eines Schlosses erkennen. Goldene Türme.
Nur ein paar Meter vor uns drehte sich ein Karussell zu den zarten Spieluhrklängen des Disneysongs It’s a small world . Auf einem der buntbemalten Karussellpferde saß, selbstvergessen vor sich hin lächelnd, ein kleines, blondes Mädchen und ließ sich im Kreis herumfahren. Trotz meines Schreis schien sie unsere Anwesenheit nicht registriert zu haben.
»Wo sind wir, in Oz?«, fragte ich und wischte mir die Feuchtigkeit von der Wange, die die Seifenblase dort hinterlassen hatte. »Aber wieso grast dann da vorne Shaun das Schaf? Oh, und sieh mal! Ein Luftballonbaum.«
»Ich sagte doch, es würde dir gefallen.« Henry lachte. »Willkommen in Amys rosaroter Traumwelt. Ist das nicht wunderbar hier?« Er lotste mich vom Karussell weg in den Schatten eines gewaltigen Apfelbaums, der gleichzeitig blühte und rotbackige Äpfel trug. Und ein paar Apfelsinen, wie ich bemerkte.
»Wer ist Amy?«
»Meine kleine Schwester.« Stolz wies er hinüber zum Karussell. »Sie ist vier, und sie hat die entspanntesten Träume der Welt, wie du siehst. Ich komme manchmal her, wenn mir alles zu viel wird oder ich das Gefühl habe, die Welt ist einfach nur schlecht. Hier ist sie auf jeden Fall immer in Ordnung. Es passiert rein gar nichts. Apfel?«
Ich schüttelte den Kopf. »Die kann man doch im Traum gar nicht schmecken.«
»Das kommt ganz auf dein Vorstellungsvermögen an.« Henry grinste. »Aber ich bin auch nicht gut im Schmecken und Riechen«, gab er dann zu. Unvermittelt beugte er sich vor und schnupperte an meinem Haar. »Schade eigentlich.«
Ich spürte, wie die Röte in mein Gesicht schoss, und seufzte. »Was war das da draußen?«
»Nichts Gutes, vermutlich.« Mit einem Schulterzucken ließ er sich unter dem Baum auf einem weichen Moospolster nieder.
»Und wieso konnte ich durch diese Tür gehen? Ich kenne deine Schwester nicht und besitze auch keinen persönlichen Gegenstand von ihr.«
»Wie praktisch, dass du mit mir unterwegs warst.« Eine große Seifenblase landete in Henrys Haaren, ohne zu zerplatzen. »Sonst würdest du vielleicht jetzt noch da draußen herumirren, verzweifelt an Türklinken rütteln und dich fürchten.«
»Mach dich nicht lustig. Das war wirklich unheimlich.« Ich setzte mich neben Henry und schlang die Arme um meine Knie. »Meinst du, es wartet vor der Tür auf uns? Wenn ja, wie kommen wir dann wieder zurück nach Hause?«
»Wer sagt denn, dass wir da wieder rausmüssen? Wir können einfach hier bleiben, bis wir aufwachen.«
Die Seifenblase war immer noch da.
»There is one moon and one golden sun «, sang Amy drüben auf ihrem Karussell. »And a smile means friendship to everyone. «
»Sie ist echt süß«, sagte ich.
»Du bist auch echt süß«, sagte Henry, den Blick auf mein Gesicht gerichtet. »Manchmal kann ich gar nicht fassen, wie süß.«
Mein Herz begann, schneller zu klopfen. Und nicht besonders gleichmäßig.
»Schon als ich dich das erste Mal gesehen habe, am Flughafen mit deinem Käse, fand ich dich süß.«
Na toll, jetzt fiel mir auch noch das Atmen schwer. Und als er sich zu mir vorbeugte, setzte die Atmung ganz aus. Der Gedanke, der mir gerade noch durch den Kopf geschossen war, löste sich in seine Bestandteile auf. Irgendwas mit Flughafen … Zürich … Lag Sankt Gallen nicht ganz in der Nähe von Zürich? Und … mein Gott, hatte Henry schöne Augen. Wenn er mich jetzt küssen wollte … sollte ich vielleicht vorher … besser … Schnell streckte ich meine Hand aus und piekte mit dem Zeigefinger in die Seifenblase auf seinem Haar.
Seine Augen weiteten sich verwundert.
»Entschuldige, aber das sah komisch aus, wie eine umgestülpte Dessertschale auf deinem Kopf«, murmelte ich und seufzte enttäuscht, als er sich wieder gerade hinsetzte. So als hätte er niemals vorgehabt, mich zu küssen.
Hatte er ja auch vielleicht gar nicht.
Und was hatte ich gerade gedacht? Es war irgendwie wichtig gewesen.
Hinter uns hörte ich Hufgetrappel, und gleich darauf galoppierten zwei Ponys vorbei, eins braun-weiß gefleckt, eins ganz weiß. Beim Anblick ihrer wehenden Mähnen lachte Amy perlend, so herzlich, wie es nur Kleinkinder können.
Meine Atmung beruhigte sich ein bisschen, aber in meinem Kopf
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