Das erste Buch der Traeume
wirbelten die Gedankenfetzen weiter wild durcheinander. Plötzlich war mir alles zu viel. All diese Geheimnisse, die mit jedem Tag immer noch mehr zu werden schienen. Die Träume, die sich jeglicher Logik entzogen. Henry, der mein Gehirn in rosa Zuckerwatte verwandelte, sobald er in meiner Nähe war. Anabel und ihr merkwürdiges Geständnis. Arthur, der wie ein Engel aussah, mir aber aus irgendeinem Grund Angst einjagte. Und dieses … Etwas da eben im Korridor.
Ich rieb mir über die Augen. Mit einem Mal fühlte ich mich entsetzlich müde. und das, obwohl ich doch gerade schlief.
»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Henry.
Ich holte tief Luft. Dann griff ich willkürlich nach einem der Gedankenfetzen, die durch meinen Kopf wirbelten, und zerrte ihn ans Licht.
»Tom Holland«, sagte ich. »Stimmt es, dass Arthur ihn gehasst hat?«
Henry zog eine Augenbraue hoch. »Das nenne ich mal einen eleganten Themenwechsel«, sagte er. »Gehasst – ich weiß nicht, so weit würde ich nicht gehen. Aber er konnte ihn nicht leiden, das stimmt. Ehrlich gesagt war Tom auch nicht gerade ein großer Sympathieträger, eher ein arrogantes Arschloch. Arthur war ziemlich eifersüchtig auf ihn, weil er vor ihm mit Anabel zusammen war. Tom hat das ausgenutzt und Arthur provoziert, wann immer er konnte. Einmal haben sie sich so heftig geprügelt, dass Grayson, als wir dazwischengingen, ein blaues Auge kassiert hat. Wenn es um Anabel geht, ist Arthur irgendwie nicht ganz zurechnungsfähig. Er liebt sie wirklich abgöttisch.«
»Hm«, machte ich. »Jetzt auch noch? Anabel hat mir von ihrem … äh … Regelverstoß erzählt. Meinst du, er hat ihr das verziehen? Dass sie ihn betrogen hat, meine ich?«
Henry sah mich stirnrunzelnd an. »Liv – Arthur ist einer meiner besten Freunde. Ich werde mit dir ganz sicher nicht über ihn reden, schon gar nicht über so intime Sachen. Und wo, bitte, hast du Anabel getroffen?«
Nein, nein, nein – keine Gegenfragen! Ich hatte zuerst gefragt. Und ich war sehr froh, dass ich zur Abwechslung mal wieder klar denken konnte. »Aber … findest du es nicht seltsam, dass Tom Holland tot ist?«, hakte ich nach.
Henry schaute zur Seite. »Der LKW-Fahrer soll betrunken gewesen sein. Das ist schlimm, aber so was kommt vor.«
»Ich weiß. Aber könnte es nicht sein, dass mit diesem Autounfall Arthurs Herzenswunsch in Erfüllung gegangen ist?«
An seinem Zögern merkte ich, dass ihm dieser Gedanke sehr wohl vertraut war. Dann schüttelte er langsam den Kopf. »Arthur konnte Tom nicht leiden, ja, das stimmt, aber ihm deshalb den Tod wünschen – nein. Das ist nicht Arthurs Art.«
In diesem Augenblick gab es einen ziemlich lauten Rums, und eine schrille Frauenstimme übertönte die Spieluhrmusik des Karussells. »Wer von euch verdammten Mistbälgern hat diese verdammten Legosteine hier liegen gelassen?«
Ich hielt nach der Person Ausschau, die das gesagt hatte, oder vielmehr gebrüllt. Aber es war niemand zu sehen.
»Wollt ihr, dass ich mir den Hals breche? Das würde eurem Vater gefallen!«, tobte die Stimme. Sie schien von allen Seiten gleichzeitig zu kommen. »Dann wäre er mich für immer los und könnte mit diesem Flittchen glücklich werden.«
Das Karussell hatte aufgehört, sich zu drehen, und Amy sah nun nicht länger selbstvergessen aus, sondern ein wenig besorgt.
»Was ist …?«, begann ich, aber als ich mich zu Henry umdrehte, bemerkte ich, dass er verschwunden war. Ich sprang auf. Wo zur Hölle war er denn hin? Weit und breit nicht die geringste Spur von ihm.
»Henry? Henry? «, rief ich, während Panik in mir aufstieg. »Bitte komm zurück! Das ist nicht lustig.«
Aber Henry war und blieb verschwunden.
»Geh weg! Lass mich verdammt nochmal hier liegen und sterben!«, schrie die Frauenstimme, und Amy drüben auf dem Karussell zuckte zusammen. »Es wird mich sowieso niemand vermissen, niemand!«
Und dann, als hätte jemand einfach den Stecker gezogen, wurde es um mich herum dunkel. Der Boden gab unter meinen Füßen nach, und ich stürzte in die Tiefe.
18. September
Florence Spencer wird mit Callum Caspers zum Herbstball gehen. Nun, wenn ihr jetzt »Callum WER?« gefragt habt, dann ist es euch genauso ergangen wie mir. Ich musste erst mal nachschauen, ob Callum überhaupt auf unsere Schule geht. Tut er aber. Seit sechs Jahren. Ups.
Ich habe für euch mal ein Foto aus dem Jahrbuch herausgekramt, darauf zu sehen: die Mitglieder der Mathe-AG vom letzten Jahr – Callum ist der zweite
Weitere Kostenlose Bücher