Das erste Buch der Traeume
Latein. Jedenfalls bedeutet cruor Blut – aber anders als sanguis meint es mit Gewalt vergossenes Blut …«
»Glaubst du nicht, das ist nur metaphorisch gemeint? So wie das mit den gesprengten Ketten – ich meine … was war das?« Ich hatte ein Geräusch gehört, wie das leise Quietschen einer Türangel.
»Keine Ahnung«, sagte Henry, ließ meine Hand los und spähte über meine Schulter. »Aber vielleicht sollten wir besser irgendwohin gehen, wo wir ungestört reden können. Zu dir, zum Beispiel.«
Ich drehte mich um. Türen, so weit das Auge reichte. Doch nirgendwo konnte ich eine Bewegung ausmachen. Warum nur fühlte ich mich trotzdem so beobachtet?
»Komm!« Henry packte mich am Arm, eine Spur zu grob, wie ich fand, und zog mich wieder in Richtung unserer eigenen Türen. Normalerweise hätte ich protestiert, aber jetzt folgte ich ihm gern.
»Hier ist aber niemand, oder?«
»Das kann man nie wissen«, erwiderte er, und zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, klang seine Stimme eine Spur verbissen. »Wenn man nur genügend Vorstellungs- und Konzentrationsvermögen hat, kann man im Traum jede beliebige Form annehmen.«
»Ich weiß.« Ich war schließlich schon eine Schleiereule gewesen. Mein Vorstellungsvermögen war ausgezeichnet, nur die Konzentration ließ zu wünschen übrig. Trotzdem – der Korridor war vollkommen leer.
Die Frage war nur, warum ging Henry dann immer schneller? Und wieso flüsterte er? Das trug nicht gerade dazu bei, mich zu beruhigen.
Noch einmal blickte er über seine Schulter. »Wenn du gut genug bist, kannst du dich in einen anderen Menschen verwandeln oder in einen Tiger, in eine Stechmücke, eine Deckenlampe, einen Baum, einen Lufthauch … Ich könnte zum Beispiel nur aussehen wie Henry, aber in Wirklichkeit jemand ganz anderes sein.«
Oh Gott. Das war nun wirklich das Falscheste, was er zu meiner Beruhigung sagen konnte. Im Gehen sah ich prüfend zu ihm auf und tastete mit meinen Blicken die Konturen seines Gesichts nach, die grauen, dichtbewimperten Augen, die gerade Nase, die fein geschwungenen Lippen, die kleinen Kringel in den Mundwinkeln.
Nein, das war Henry. Ganz bestimmt.
»Pssst.« Er blieb stehen.
Ich hatte es auch gehört. Eine Art Rascheln. Wie von einem Vorhang, der beiseitegezogen wurde. Ich klammerte mich an Henrys Arm. Da war es wieder. Ja, das klang nach Stoff. Oder als ob jemand mit zusammengebissenen Zähnen Luft holte. Schwer zu sagen, woher es kam. Aber egal woher – es war schon viel zu nah.
Henry zog mich wieder vorwärts, und ich war sehr froh, dass er das tat, weil meine Knie drohten, ihren Dienst zu versagen. Das war typisch: Immer, wenn ich im Traum von jemandem verfolgt wurde, neigten meine Knie dazu, sich in Wackelpudding zu verwandeln. Und der Boden bestand dann auf einmal aus Sand oder tiefem Schnee, und ich kam nur noch in Zeitlupe vorwärts. Ich hasste solche Träume.
Wieder dieses merkwürdige Rascheln. Wie war das eben noch mit dem Lufthauch? Konnte man wirklich von einem Lufthauch verfolgt werden? Von einem raschelnden Lufthauch … mit Zähnen?
»Findest du nicht auch, dass es irgendwie dunkler geworden ist, Henry?«
Henry antwortete nicht. Wir waren wieder bei unseren Türen angelangt, aber er blieb nicht stehen, sondern zog mich ein paar Meter weiter vor eine pinkfarben lackierte Holztür, die über und über mit bunten Blumen bemalt war. Sogar der Türknauf hatte die Form einer Blume.
»Und kälter wird es auch.« Ich merkte selber, dass ich allmählich ein wenig hysterisch klang. »Oder bilde ich mir das nur ein? Bitte sag, dass ich mir das alles nur einbilde.«
»Viel besser: Du träumst das hier alles nur.« Henry fuhr mit den Fingern über eine gelbe Blume. Es sah aus, als ob er sie kitzelte, jedenfalls war ein Kichern zu hören. Der Türbolzen fuhr zurück, und Henry drückte die Türklinke hinunter.
Ich zögerte kurz.
»Komm schon, das wird dir gefallen.« Mit einem Ruck zog Henry mich über die Schwelle, während die Tür mit einem satten Klacken hinter uns ins Schloss fiel und den Korridor und das, was sich möglicherweise in ihm befand, aussperrte.
Ich seufzte erleichtert auf. Allerdings nur etwa eine Sekunde lang.
Etwas Feuchtes ploppte direkt in mein Gesicht, und ich stieß einen kleinen Schreckensschrei aus.
Dann sah ich die Seifenblasen. Hunderte! Sie schwebten über eine grasbewachsene, hügelige Landschaft, über der der blauste Himmel prangte, den ich jemals gesehen hatte. Überhaupt waren die Farben hier
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