Das erste Buch der Traeume
Augenweide. »Oh, oh, sagt man denn nicht, dass das, was man in der ersten Nacht im neuen Zuhause träumt, in Erfüllung geht?«
Sagte man das? Na, das waren ja wunderbare Aussichten.
»Das wäre schlimm.« Mia bedachte Florence mit einem vernichtenden Blick. »Vor allem, wenn Liv von einem Axtmörder geträumt hat, der dich niedermetzeln wollte.«
»Mein armes Mäuschen. Bitte träum ab jetzt was Schönes, ja?« Mum gähnte und streichelte über mein Haar.
»Und wenn nicht, dann sei wenigstens leise dabei«, setzte Florence grummelnd hinzu. »Ich habe beinahe einen Herzstillstand erlitten.«
»Es ist erst halb vier. Ich schlage vor, wir gehen alle wieder in unsere Betten und versuchen, noch etwas Schlaf zu bekommen«, sagte Ernest. »Aber du lässt vielleicht besser die Nachttischlampe an, ja, Liv?«
Darauf konnte er wetten. Ich zog die Bettdecke bis zum Kinn, weil mir plötzlich eiskalt war.
»Entschuldigt«, sagte ich erschöpft. »Ich wollte euch wirklich nicht wecken. Gute Nacht.«
Einer nach dem anderen schickte sich an, mein Zimmer zu verlassen. Nur Grayson drehte sich an der Tür noch einmal zu mir um und sah mich an.
»Was?«, fauchte ich, als er nach zirka zehn Sekunden immer noch schwieg. Er trug nur eine Pyjama-Hose und obwohl ich so neben der Spur war (oder vielleicht gerade deswegen), konnte ich nicht umhin, seinen durchtrainierten Oberkörper zu registrieren.
»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich hätte dich da nicht reinziehen sollen.« Bevor ich ihm widersprechen konnte, schloss er die Tür.
Müde ließ ich mich in die Kissen zurückfallen. Es war nicht seine Schuld, es war ganz allein meine Schuld. Ich hatte gedacht, ich hätte die Sache im Griff. Hatte ich aber nicht.
Und Spaß machte es auch keinen mehr.
Im Schnelldurchlauf erinnerte ich mich an die Angst in Anabels Stimme, den sterbenden Hund auf dem Rasen, den triumphierenden Glanz in Arthurs Augen und das unsichtbare Etwas, das Henry und mich im Korridor verfolgt hatte. Sollte das jetzt jede Nacht so weitergehen?
Die Geschichte mit Tom Holland hatte mir wirklich zu denken gegeben und brachte meine Überzeugung, die Nichtexistenz von Dämonen betreffend, ganz schön ins Wanken. Angenommen, Henry täuschte sich, und Arthur hatte sich letztes Jahr an Halloween doch Toms Tod gewünscht – wie groß war dann die Wahrscheinlichkeit, dass er, jung und gesund, wie er gewesen war, tatsächlich innerhalb der nächsten neun Monate starb? Unter einem Prozent, würde ich mal schätzen, weit unter einem Prozent. Es würde erklären, warum Arthur so ernst, ja fast verbissen bei der Sache war: Er war davon überzeugt, dass Toms Unfall das Werk des Dämons war. Und ich konnte das sogar verstehen.
Ich wälzte mich auf die andere Seite und schloss erschöpft die Augen. Ich musste die grüne Tür in den nächsten Tagen einfach so gut es ging ignorieren, sonst wurde ich noch wahnsinnig. Lieber jede Nacht von Hamlet träumen, als noch einmal von unsichtbaren Verfolgern oder einem Sturz ins Nichts. Und von Jungen mit grauen Augen, die einfach so verschwanden, wenn es romantisch wurde. Es wurde höchste Zeit, die Regie wieder meinem gesunden Menschenverstand zu überlassen.
Henry schien allerdings nicht nur im Traum verschwunden zu sein, er tauchte Montag auch nicht in der Schule auf, egal, wie sehr ich nach ihm Ausschau hielt. Erst wurde ich nur unruhig, aber als er am Dienstag immer noch nicht auftauchte, schlug die Unruhe in leichte Hysterie um. Was wusste ich denn schon von diesen Träumen und ihren Gesetzen? Vielleicht hatte dieses raschelnde Grauen ihn erwischt und … Oder Henry war einfach nur krank und ich im Begriff, vollkommen durchzudrehen. Weil ich ernsthaft darüber nachdachte, ob man sich in zugigen Traumkorridoren einen Schnupfen holen konnte. So viel zum Thema gesunder Menschenverstand.
Als am Mittwochmorgen immer noch keine Spur von Henry zu entdecken war, obwohl ich extralang bei den Spinden herumtrödelte, begriff ich schlagartig, wie sehr ich ihn vermisste. Und dass ich diese Ungewissheit nicht länger aushielt. Ich würde meinen Stolz überwinden und Grayson fragen müssen.
Wenn Grayson mir nicht weiterhelfen konnte, würde ich heute Nacht durch die grüne Tür gehen, allen guten Vorsätzen zum Trotz. Vielleicht konnte ich Henry wenigstens da finden.
In diesem Augenblick hörte ich seine Stimme.
»Hat der Spind dich hypnotisiert, Käsemädchen? Du starrst seit einer Minute auf dieselbe Stelle.«
Ich war so erleichtert, ihn zu
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