Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das erste Buch der Traeume

Das erste Buch der Traeume

Titel: Das erste Buch der Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Gier
Vom Netzwerk:
sehen, dass meine Beine fast unter mir nachgaben. Natürlich fiel mir absolut keine schlagfertige Antwort ein.
    »Henry!« Ich konnte gerade noch einen Stoßseufzer unterdrücken.
    Er lächelte. »Du hast mir auch gefehlt«, sagte er. Seine Augen glänzten, aber die dunklen Schatten unter ihnen waren nicht zu übersehen.
    »Wo warst du?«, brachte ich heraus.
    Er öffnete seinen Spind und nahm ein paar Bücher heraus. »Ich musste mich zu Hause um etwas kümmern.« Etwas zögernd setzte er hinzu: »Meine Mutter hatte eine schwierige Phase. Aber jetzt ist alles wieder gut.«
    War es die Stimme seiner Mutter gewesen, die durch Amys bunten Kleinmädchentraum geschallt war? Verdammte Mistbälger – das war nicht unbedingt etwas, das man aus dem Mund seiner Mutter hören wollte.
    »Du warst plötzlich einfach verschwunden, und dann war alles schwarz«, murmelte ich und unterdrückte den Impuls, ihn zu berühren, um mich zu vergewissern, dass er es wirklich war. Sicherheitshalber verschränkte ich meine Arme vor der Brust.
    Es klingelte zum Unterrichtsbeginn.
    »Tut mir leid – ich bin aufgewacht … Und Amy dann auch.« Ein bisschen heftiger als nötig schloss er seine Spindtür wieder. »Ich hätte es dir gerne erklärt, aber die letzten Nächte hast du dich nicht im Korridor blicken lassen.«
    »Du hättest einfach anrufen können«, sagte ich. »Tagsüber, meine ich.«
    Er betrachtete mich nachdenklich. »Ja, das hätte ich wohl«, sagte er dann. »Ich muss los – Biologie-Test. Aktive und passive Transportvorgänge in der Biomembran. Drück mir die Daumen.«
    Im nächsten Moment war er im Gewühl verschwunden, und ich fing schon wieder an, ihn zu vermissen. Wenn Persephone nicht aufgetaucht wäre, um mir ihr Handy mit einem Foto von sich in einem schilfgrünen Ballkleid unter die Nase zu halten, wäre ich ihm vielleicht sogar hinterhergelaufen. Zum ersten Mal war ich dankbar für Persephones Anwesenheit.
    In den Nächten rettete mich allerdings niemand davor, über Henry und mich nachzugrübeln. Ich brauchte ewig, um einzuschlafen, und wenn es mir endlich gelang, hatte ich zwar keine Albträume mehr (und nur noch einmal musste ich mir »Hamlet« mit Florence in beiden Hauptrollen antun), aber überall tauchte die grüne Tür auf. Immer wieder war ich kurz davor, sie zu öffnen, um dann doch zurückzuweichen.
    Nein, so einfach würde ich es ihm nicht machen! Wenn Henry mit mir reden wollte, dann konnte er das auch tagsüber tun. Er wusste ja, wo ich zu finden war … Abgesehen davon konnte man nie wissen, wen oder was man in diesem Korridor sonst noch antraf.
    Aber Henry schien mir aus dem Weg zu gehen. Ein paarmal traf ich Arthur und Jasper, aber weil ich dabei stets in Begleitung von Persephone war, lächelten sie nur und warfen mir bedeutungsschwangere Blicke zu. Das brachte Persephone zwar jedes Mal einem Herzinfarkt nahe, aber mich heiterte es ein bisschen auf. Die Träume waren das eine, aber wenn ich an das Ritual bei Jasper im Wohnzimmer dachte, musste ich lachen.
    Die Nächte zogen sich ewig hin, die Tage hingegen vergingen überraschend schnell, nicht zuletzt, weil es so eigenartig und neu für uns alle war, bei den Spencers zu wohnen. Doch es funktionierte besser, als ich gedacht hatte. Vielleicht lag es daran, dass Mum und Ernest so offensichtlich glücklich miteinander waren. Um ehrlich zu sein, hatte ich Mum noch nie glücklicher gesehen. Unter diesen Umständen fiel es Mia und mir zunehmend schwer, so zu tun, als würden wir Ernest immer noch verabscheuen. Wir vermieden zwar nach wie vor die direkte Ansprache, aber manchmal, wenn wir nicht aufpassten, rutschte uns doch ein »Ernest« heraus anstelle eines »Mr Spencer«. Und ein Lächeln.
    Auch an Grayson konnte man sich schnell gewöhnen. Er hatte zwar zwei, drei unangenehme Eigenschaften, wie die, die Milch nicht zurück in den Kühlschrank zu stellen oder fette Zahnpastakleckse im Waschbecken zu hinterlassen, aber ansonsten war er ein angenehmer Mitbewohner. Vor allem Butter liebte ihn heiß und innig, weil er jeden Tag mit ihr im Garten herumtobte und auch dann noch begeistert von ihrer Fähigkeit zu apportieren war, als sie seinen Basketball kaputtbiss. Unter der Woche schien er nicht viel Zeit mit Emily zu verbringen, aber man hörte sofort, wenn sie am Telefon war, denn dann wurde seine Stimme ganz merkwürdig, und er verschwand so schnell er konnte in seinem Zimmer. (Wofür alle sehr dankbar waren, uns reichte das verliebte Gesäusel von Mum

Weitere Kostenlose Bücher