Das erste der sieben Siegel
beugte er sich vor und nahm ihre Hand. Es entstand ein verlegener Augenblick, in dem sie reflexartig versuchte, ihre Hand zurückzuziehen, aber er hielt sie fest.
»Moment«, sagte er. »Ich will nicht aufdringlich werden, sondern mir nur ihre Handfläche ansehen.«
»Wieso?«, fragte sie, offensichtlich voller Argwohn, er wollte sich vielleicht über sie lustig machen.
»Um Ihnen aus der Hand zu lesen.«
»Seien Sie nicht albern«, sagte sie – aber ihre Hand entspannte sich.
Er streichelte ihren Handteller und dann jeden Finger. »Sie glauben also, ich kann nicht aus der Hand lesen?«
»Ja.«
»Tja, ich kann’s aber.«
Sie kicherte. »Und wo haben Sie diese Fähigkeit erworben? Auf der Handleseschule?«
»Ich muss doch sehr bitten«, sagte er in einem gespielt offiziellen Ton, »wir sagen nicht ›Handleseschule‹; das Institut heißt Schule für Chiromantie. Auf der ›Handleseschule‹ lernt man Blindenschrift.«
Ein Kichern.
»Und nein, ich habe keinen Abschluss gemacht. Aber ich habe mal für eine Zeitschrift einen Artikel über eine Handleserin geschrieben.«
»Wirklich?«
»Ja. Sie haben bestimmt schon mal so ein Schild gesehen. Wie eine große rote Hand mit Zahlen drauf, und es hängt für gewöhnlich im Fenster eines kleinen weißen Hauses, direkt am Highway, zwischen einem Laden, in dem Flaggen repariert werden, und einem Geschäft für Aquarienzubehör. Und ich habe mir gedacht: ›Was sind das wohl für Leute, die da hingehen?‹«
»Fischzüchter, würde ich meinen. Und Leute mit Flaggen.«
»Und Leute mit Handflächen«, stimmte Frank zu. »Jedenfalls habe ich mit einer gewissen Madame Rurak gesprochen – das Orakel von Hyattstown. Und mit ihrer Erlaubnis habe ich einige ihrer Kunden interviewt. Und wie sich herausstellt, hat sie eine richtig bunte Kundschaft. Es sind die gleichen Leute, die zu Chiropraktikern gehen, nur dass sie deren Psyche ›einrenkt‹, nicht deren Rückenwirbel.«
»Und war das Ganze – na ja – bloß ausgemachter Mumpitz?«
Er zuckte die Achseln, streichelte weiter ihre Handfläche und starrte darauf. »Ich weiß nicht. Sie hat zwar nicht gerade die Lottozahlen verraten. Sie war intensiv, wissen Sie, richtig konzentriert, aber alles, was sie sagte, war eher allgemein.«
»Wie Zeitungshoroskope.«
Frank verzog das Gesicht. »Aua.«
Sie lachte. »Und was, glauben Sie, hat es ihnen gebracht? Den Leuten, die zu der Frau gegangen sind?«
»Ich hatte den Eindruck, dass sie alle bester Laune waren, wenn sie wieder gingen. Ich denke, sie hat ihnen etwas Tröstliches gesagt, darüber, wie ihr Leben verlaufen ist. Sie hat gesagt, es steht genau hier, hier in ihrer Handfläche, da steht es bereits geschrieben. Ganz gleich, was Sie gemacht haben und hätten, es wäre alles genau so gekommen. Sie hätten sich mit zehn einen Computer kaufen können, Sie hätten Gitarre lernen können, Sie hätten Sherry Dudley fragen können, ob sie mit ihnen zum Schulball geht – und nichts hätte irgendetwas geändert. Es war nämlich alles schon ganz früh festgelegt: die Lebenslinie, die Liebeslinie. Den Leuten hat’s gefallen. Anscheinend hat es sie entlastet.«
Sie lachte. »Und wer war Sherry Dudley?«
»Darüber darf ich nicht sprechen«, murmelte er.
Sie kicherte wieder. »Aber Sie glauben doch nicht an so was, oder?«
»An was?« Er krümmte ihr nacheinander die Finger und strich sie wieder gerade. »Sie meinen, an das Schicksal?« Er beugte sich über ihre Hand und schaute eindringlich darauf. »Natürlich. Ich seeehe … jemand … Neues! Jemand Neues in Ihrem Leben.«
»Wirklich?«, sagte sie, die Stimme voller Skepsis.
»Ja. Und es wird wunderschön werden. Sie sollten alles tun, was diese Person sagt.«
»Und ist diese Person vielleicht groß, dunkel und gut aussehend?«
Er erforschte weiter die Hand. »Nun, ja – er ist eindeutig groß und – hmmm – sieht nicht schlecht aus! Wirklich nicht schlecht. Aber …« Er schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn. »Nicht sehr dunkel. Eher … ach, ich weiß nicht genau – irisch oder so. Blaue Augen. Ein Herz aus Gold. Erwähnt nie Kopervik. So in etwa.«
»Verstehe.«
»Und da ist noch was. Eine unglaublich detaillierte Linie. Ja, dieser Bursche hat eine sentimentale Bindung an sein Auto, das er eigentlich verkaufen sollte.« Er blickte zu ihr hoch.
»Und ist das Auto ein Saab?« Sie kicherte. »Rein zufällig?«
Er blickte auf ihre Hand. »Ich glaube, es ist tatsächlich ein Saab!
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