Das erste der sieben Siegel
Zeit. Es war offensichtlich, dass der Alte Herr nicht sprechen konnte, und ebenso offensichtlich, dass Frank nicht wusste, was er sagen sollte. Schließlich streckte er den Arm aus und nahm die Hand seines Vaters. Er war erstaunt, wie rau sie sich anfühlte, aber er wusste auch, wieso. Nach all den Jahren im Kesselraum waren die Hände des Alten Herrn wie aus Asbest. Frank hielt die Hand umschlossen, drückte sie sacht und hörte sich selbst für sie beide sprechen: »Es tut mir leid«, sagte er. »Es tut mir leid, dass es soviel … Unglück gegeben hat.«
Der Alte Herr blinzelte ein zweites Mal. Dann wurde der Griff seiner Hand in der seines Sohnes fester, und er zog Frank näher zu sich heran. Sein Kopf kippte zur Seite, als er die Achseln heben wollte, und die Mundwinkel hoben sich leicht zu einem Was-will-man-machen?- Lächeln.
Einen Moment lang hätte Frank schwören können, dass er Tränen in den Augen des Alten Herrn sah, aber dann fiel ihm auf, dass es umgekehrt war. Wie ein Berg, der sich erhebt, so dröhnte ihm das Herz in der Brust, und er hatte das Gefühl, eine Rasierklinge verschluckt zu haben.
Der Alte Herr wandte den Blick ab, und bald war alles wieder normal. Sie blieben lange so, Hand in Hand, schweigend, sich gegenseitig haltend. Franks Kindheit huschte an seinem geistigen Auge vorbei, und er sah seine Mutter und den Kesselraum, den Schulhof, den Tante-Emma-Laden, den Garten, das Footballfeld – Himmel!
Und dann keuchte der Alte Herr und stieß Luft aus, Puff, und dann war es vorbei.
Daphne lud ihn ein, im Haus zu wohnen – »Du kannst dein altes Bett haben, dein Dad hat mir immer verboten, es auszurangieren« –, aber Frank lehnte ab und beteuerte, er habe bereits für sein Zimmer im ›Red Roof Inn‹ bezahlt. Aber an der Totenwache kam er nicht vorbei, die sich als eine Art offenes Haus für fröhliche Trauergäste erwies. Als er vor dem Haus eintraf, das für ihn noch immer sein ›Zuhause‹ war, stellte er traurig fest, dass der Garten völlig verwahrlost war, die Rosen unbeschnitten, die Blüten vom letzten Jahr noch immer auf den Stängeln. Er trat ins Haus und sah sofort, dass Daphne dem Wohnzimmer ihren Zauber aufgezwungen hatte: Ein mandeläugiges Waisenkind starrte tränenumflort auf den Großbildschirm des Fernsehers und die Ledercouch.
Dieser wenig verheißungsvolle Auftakt wurde jedoch rasch durch etwas anderes verdrängt, als nämlich die Freunde seines Vaters ihn zu sich in die Küche einluden.
»Hol dir ‘nen Stuhl, Frankie!«
»Ich hoffe, du musst den Sarg nicht bezahlen, mein Junge! Hast du je schon mal so ein Ding gesehen?«
»Ich kann dir sagen, Frank, ich hab gedacht, das wäre die Titanic.«
»Gebt dem kleinen Frank mal ein Bier – er sieht ein bisschen grün im Gesicht aus!«
»Mit allen Schikanen«, sagte einer. »Ein Mahagoni-Lexus – hätte deinem Vater bestimmt gefallen!«
»Setz dich, Frankie – zum Donnerwetter, du machst mich richtig müde. Hast du ihn schon gesehen? Rausgeputzt wie J. Edgar Hoover …«
Und Onkel Sid: »Bin mir gar nicht sicher, ob er das wirklich war! So gut hat er nie ausgesehen!«
»Der Mann hat Recht! Seit wann hat dein Vater so rosige Bäckchen?«
»Nie«, sagte Frank.
»Und so glatt rasiert kenne ich ihn auch nicht!«
Und so ging es weiter, die Frauen standen im Wohnzimmer und redeten pietätvoll miteinander, und die Unterhaltung in der Küche floß zwanglos dahin. Hier und da eine Anekdote, lautes Gelächter, Hände, die auf den Tisch klatschten. Noch eine Runde Bier. Noch ein Histörchen, noch mehr Lachen. Die Frauen warfen von Zeit zu Zeit einen Blick in die Küche, schauten streng drein oder verdrehten irritiert die Augen.
Er blieb bis zehn Uhr abends, und bis dahin erfuhr er mehr über den Alten Herrn als in all den Jahren zuvor. Als er den Freunden seines Vaters zuhörte, begriff er allmählich, und zum ersten Mal, dass man diesen Mann mit den großen Schwächen auch hätte lieben können. Und ihm aus dieser Liebe heraus vielleicht sogar hätte vergeben können.
Am nächsten Morgen fuhr er neben der laut weinenden Daphne im Trauergeleit zum Friedhof Holy Cross. Dort hielt Pater Morales eine kurze Ansprache. Frank warf eine Hand voll Erde auf den Sarg. Und dann war es Zeit, nach Hause zu fahren.
»Aber du musst doch noch seine Sachen durchsehen«, sagte Daphne. »Vielleicht willst du das eine oder andere – ich meine, du verstehst schon, behalten.«
Es erschien ihm leichter, mit ihr zum Haus
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