Das Erste Horn: Das Geheimnis von Askir 1 (German Edition)
führte.
»Die Kühe«, sagte Lea.
Der Wirt nickte. »Ich hörte sie, als ich das Essen hier abstellte, und wunderte mich schon. Theobald ist … war ein ordentlicher Junge, es sah ihm nicht ähnlich. Ich ging also hinüber in den Stall …«, er schluckte. »Seht selbst.«
Er öffnete die Tür und ließ uns den Vortritt. Ich sah, dass Lea die Hand um den Knauf ihres Langschwerts schloss.
Hinter uns kam der Wirt herein und hielt die Laterne hoch.
Der Stall war nicht so abgedichtet wie die anderen Gebäude, hier und da fiel durch Ritzen Licht, aber das gedrängt stehende Vieh gab genug Wärme, dass es fast anheimelnd war. Für einen Moment konnte ich nichts erkennen, außer dass die Tiere nervös waren und die Kühe jämmerlich muhten.
Dann erkannte ich langsam die beiden Haufen auf dem Boden.
»Sein Hund«, erklärte der Wirt, als ich mich dem ersten näherte. Es war wohl mal ein Wolfshund gewesen, ich erinnerte mich vage an ihn, von mittlerer Größe und noch jung, er war freundlich genug, meine Hand zu beschnüffeln und mit dem Schwanz zu wedeln. Ein gutmütiges Biest.
Eine Klaue hatte ihn vom Bauchfell bis zum Brustkorb geöffnet, ein einzelner Streich, wie es schien. Der Hund war danach gegen die Wand geschleudert worden – dunkle Tropfen zeichneten seine Flugbahn nach – und an dieser herabgeglitten, um so zur Ruhe zu kommen, wie er nun vor uns lag. Ein Schlag, und das Tier war zerschmettert worden.
Ich hielt meinen Dolch in der Hand – ich erinnerte mich gar nicht, ihn gezogen zu haben – und schob mit der Spitze die Lefzen des Tieres nach oben. Sie ließen sich, wenn auch nur widerwillig, bewegen. Lange war das Tier noch nicht tot, und vor seinem Ende hatte es sich heftig gewehrt. Seine Zähne waren blutig, und es erschien mir, als ob sich Haare zwischen seinen Zähnen verfangen hätten.
Ich erhob mich wieder und ging langsam zu dem zweiten Haufen hinüber. Ich versuchte mich an den Stallburschen zu erinnern. Nicht viel älter als Lisbeth, ein sommersprossiges Gesicht, eingehüllt in mehrere Lagen viel zu großer Kleidungsstücke. Er hatte ein freundliches Wort für Zeus, mein Pferd, gehabt. Sommersprossen. Ich erinnerte mich an seine Sommersprossen.
Meine Augen wichen dem, was vor mir lag, aus und fanden eine Mistgabel mit hölzernen Zinken. Sie war zerbrochen … Ich kniete mich nieder und studierte sie. Hinter mir standen Lea und der Wirt, niemand sagte etwas, es gab nur die Tiere und das Geräusch des ewigen Schneesturms. Das Schnauben im Hintergrund erkannte ich: Zeus hatte mich gerochen, aber er musste warten.
Der Schaft der Mistgabel war nicht gebrochen. Etwas hatte ihn entzweigebissen, die Abdrücke der Zähne waren deutlich zu sehen.
Schließlich wandte ich mich doch wieder dem Jungen zu.
Er lag da wie eine zerbrochene Puppe, Arme und Beine unnatürlich abgewinkelt, an seinem Oberschenkel hatte sich ein Knochen durch sein Beinkleid gedrückt. Vom Becken bis zum Brustbein war er ausgehöhlt, die Rippen aufgebrochen. Die Bauchhöhle und der Brustraum waren sauber ausgeweidet, vielleicht sogar ausgeleckt. Er lag inmitten eines großen dunklen Flecks, seinem Blut, es war noch zäh und klebrig, schon kalt, aber nicht gefroren.
Seine Augen fehlten, genau wie Nase und Ohren.
Sein Wams war auseinander gerissen worden, die Holzknöpfe aufgesprungen, als es zerfetzt worden war.
»Ich habe noch nie von einem Tier gehört, das sein Opfer entkleidet.« Es war meine Stimme, die sprach, es war mir nur nicht bewusst, dass ich meine Gedanken laut äußerte. Ich sah mich im Stall um. Er war groß, das größte Gebäude auf dem Hof, und bot im Normalfall Platz für gut vierzig Pferde. Heute mochten siebzig Tiere hier sein: die wertvollsten Tiere der Kuhherde, die Pferde der Gäste und das eigene Nutzvieh des Wirts.
Der Stall hatte einen doppelten Heuboden, zwei offene Ebenen, die über eine Leiter zu erreichen waren. Dort oben rührte sich etwas, und ein zerzauster Kopf erschien. Ich hatte ganz vergessen, dass ein Teil der Gäste hier nächtigte. Es war eine der jungen Frauen aus der adligen Reisegesellschaft. Für einen Moment sah sie verständnislos zu uns herab, dann erkannte sie langsam, was das Licht der Laterne beleuchtete. Sie fing an zu schreien, ein Schrei, der sich endlos hochschraubte, die Tiere nervös machte und meine Zähne schmerzen ließ. Er schien eine Ewigkeit anzuhalten. Ich sah den Wirt hektische Gesten machen, aber sie hörte nicht auf, bis eine Hand von hinten erschien, ihr
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