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Das erste Schwert

Titel: Das erste Schwert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kashina
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wird, was wir sehen, nicht immer zwingend Wirklichkeit –
     also dient es uns als eine Art   ... Warnung vor dem, was sein könnte. Unsere Gabe ermöglicht es den Cha’ori, weise Entscheidungen zu treffen. Diese Gabe ist
     die seltenste und wertvollste von allen, die den Cha’ori bekannt sind. Und ich will, dass du weißt, dass unter allen Cha’ori-Seherinnen
     ich diejenige mit der stärksten Gabe bin.« Daraufhin schwieg sie wieder; im Flackerlicht der Laterne begegnete Skips Blick
     dem ihren.
    |407| Er war wie betäubt von ihren Worten.
Eine Seherin?
Dagmara war imstande, die Zukunft zu schauen?
    »Ich – ich wusste nicht, dass so etwas möglich ist«, wisperte er.
    »Es
ist
unmöglich«, stimmte sie ihm zu. »Was wir zu sehen vermögen, ist nichts als
eine
Wahrscheinlichkeit, ein wahrscheinliches Ergebnis verschiedener Taten. Das Buch des Wissens nennt diese Gabe
ein Resultat einer erweiterten Leistungsfähigkeit des Gehirns
, eine besondere Klarheit des Denkens, die uns befähigt, mögliche Szenarien hochzurechnen, gerade so, wie ein Schachspieler
     mehrere Züge voraussehen kann. Doch während ein Schachspieler hochkonzentriert und in vollem Bewusstsein plant und taktiert,
geschieht
das Sehen nicht bewusst. Nur winzigste Splitter der Zukunft sehen wir aufblitzen, schrecklich lebensechte Bilder dessen, was
     kommen könnte – und schnell wie Sternschnuppen wirbeln sie an unserem inneren Auge vorbei.«
    Ganz im Bann ihrer Worte starrte Skip sie an. Eine lange Zeit verging, bis er jene Frage zu stellen wagte, die ihm auf der
     Zunge brannte. »Hast du es je gesehen, das Buch des Wissens?« Er sprach es ganz langsam aus. Und er wollte noch hinzufügen:
Existiert es wirklich?
– und schwieg stattdessen.
    Sie lachte. »Kurz«, sagte sie dann. »Vor vielen Jahren. Vor der Dunklen Zeit.«
    »Aber die Dunkle Zeit wurde vor mehr als hundert Jahren für beendet erklärt!«, begehrte er auf.
    »Ich weiß.« Sie hielt seinem Blick stand, mühelos.
    »Wie alt bist du, Dagmara?« Skips Stimme war nur mehr ein Hauch.
    Sie forschte in seinen Augen, seinem Gesicht, als gelte es erst, zu entscheiden, ob er für dieses Wissen bereit sei.
    »Ich bin vierhunderteinunddreißig Jahre alt«, sagte sie schließlich. »Wie viele derjenigen, die das Buch des Wissens geschaut
     haben, erlernte auch ich das Mysterium des verlangsamten |408| Alterns. Es ist eines der unbedeutenderen darin niedergeschriebenen Dinge und in der alten Zeit doch für Tausende und Abertausende
     Abenteurer und Glücksritter der Hauptgrund, danach zu jagen.
Queste um des Wissens willen
nannten sie es, doch in Wirklichkeit trieb sie allein die Gier nach der relativen Unsterblichkeit, und so wurde dies schließlich
     auch zum Hauptgrund dafür, dass das Buch versteckt werden musste. Eure Kirche setzte den Questen ein Ende, und so kam es,
     dass heutzutage niemand mehr weiß, wo und in wessen Besitz es sich befindet.«
    In Skips Kopf drehte sich alles; er kam sich vor, als habe er lange, viel zu lange zu atmen vergessen. Dies alles war ihm
     kaum verständlich.
    Vielleicht sah Dagmara es in den Tiefen seiner Augen. »Aus zwei Gründen sage ich dir dies alles«, fuhr sie fort. »Erstens,
     weil ich niemals jemandem begegnet bin, dessen Gabe so stark ist wie deine – auch wenn sie heute noch tief in dir verborgen
     schlummert und du sie erst noch erkennen musst. Es ist eine mächtige Gabe, und ich weiß mit Sicherheit, dass du zu großen
     Taten fähig bist.«
    »Und der zweite Grund?«, fragte er, ungeduldiger als bisher, da ihm ihr Schweigen zu lange dauerte.
    Wie aus weiten Fernen kehrte das Licht wieder in ihre Augen zurück. »Ich habe etwas gesehen, das mit dir und deiner Zukunft
     zu tun hat. Mehrere   ... Bilder, mehrere Ereignisse. Nicht alle werden genau so eintreffen. Aber alle sind gleichermaßen möglich.«
    Stille breitete sich zwischen ihnen aus. Skip atmete Weihrauchduft und lauschte dem Zischeln und Knistern der Laternenflamme.
     Draußen, scheinbar in einer anderen Welt, schrie klagend ein Nachtvogel, und danach wieder nichts als Stille.
    »Was für   ... Ereignisse?«, hauchte er mit ausgedörrten, schmerzenden Lippen, und angstvolle Erwartung zersprengte ihm schier die Brust.
    |409| Dieses Mal antwortete Dagmara nicht gleich. Er entdeckte eine Pein in ihren Augen. Und noch etwas   ...
Mitleid?
    »Seher offenbaren ihre Visionen niemals«, beschied sie ihm. »Es wäre zu zerstörerisch, wüsste jemand, welches Schicksal ihn
     erwartet.

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