Das erste Schwert
trägst«, sagte sie.
Er machte keine Anstalten, es an sich zu nehmen, und so ergriff sie seine rechte Hand und legte es hinein.
»Warum?«, fragte er.
»Eines Tages magst du unsere Hilfe brauchen. Dieses Zeichen wird jeden Cha’ori veranlassen, dir alles zu geben, was du benötigst.
Selbst sein Leben.«
»Aber – warum?«, fragte Skip noch einmal. »Warum bist du dir so sicher, dass ich eure Hilfe brauche? Und warum machst du mich
zum Herren über das Leben oder den Tod von Cha’ori?«
»Einer anderen Vision wegen«, antwortete sie schlicht. »Einer Zukunft wegen, die jedoch nur wahrscheinlicher wird, wenn es
dir, wie auch immer, gelingt, jenem Schicksal zu entgehen, das die Olivianerin mit sich bringt. Wenn du an ihrer Seite bleibst,
stirbst du, und das Medaillon wird verloren sein. Doch auch wenn ich sehe, dass du nicht die Absicht hast, meinem Rat zu folgen,
so will ich die Chance doch ergreifen. Zu bedeutsam war das Geschaute.«
|412| Sie trank bedächtig einen Schluck Tee. Dann sprach sie mit sanfter Stimme weiter: »Seit dem Tag, da dieses Medaillon geschaffen
wurde, habe ich es kein einziges Mal abgenommen. In all diesen langen Jahren ehrte mich mein Stamm als begabteste Seherin,
die den Cha’ori je geboren wurde, und dieses Medaillon war das Symbol meiner Macht. Ich gebe es nicht leichtfertig aus der
Hand. Deshalb erbitte ich mir nur eines von dir: Nimm du es an dich und halte es in Ehren.«
Da konnte Skip nicht mehr anders; ohnedies war die kühle Distanziertheit in ihm längst zerschmolzen. Mit einem kleinen, dankbaren
Lächeln anerkannte er ihre Worte – dann umschloss er das Medaillon mit seiner Hand. Glatt wie Seide schmiegte sich der polierte
Stein gegen seine Haut. Die Einlegearbeiten waren so kunstfertig vollzogen worden, dass zwischen den einzelnen Steinen nicht
die geringste Fuge zu spüren war.
Jetzt erst zog Dagmara ihre Hand von der seinen zurück. »Leg’ es an«, sagte sie ernst. »Und vergewissere dich allezeit, dass
es dir nicht abhanden kommt. Wenn ich es wiedersehe, so werde ich wissen, dass du mich brauchst.«
Skip streifte sich den Lederriemen über den Kopf, hob den Hemdkragen von seiner Haut und ließ das Medaillon darunter verschwinden.
Oberhalb seines Brustbeins fand es seinen Platz; angenehm lag es ihm auf der Haut. »Ich danke dir«, sagte er.
Sie lächelte, fast traurig, wie es ihm scheinen wollte. »Jetzt geh«, wies sie ihn an. »Morgen werden sich unsere Wege trennen,
aber ich habe die Hoffnung, dass sie sich auch wieder kreuzen und wir uns wiedersehen. Vielleicht errettet dich deine Gabe,
wo dein Starrsinn dich dem Tod gegenübertreten ließ.«
Kurz legte nun er seine Hand auf die ihre, dann erhob er sich.
|413| Dieses Mal begleitete Dagmara ihn nicht. Allein fand er seinen Weg durch das dunkel liegende, stille Lager. Lautlos glitt
er in das große Zelt, das er mit Erle und so vielen Cha’ori teilte und legte sich nieder.
Morgen,
dachte er und lauschte dem Nachtwind, der draußen über die weiten Grasebenen strich. Morgen also würden sie sich von ihrem
freien Leben bei den Or’halla-Nomaden verabschieden müssen. Dies schmerzte ihn zutiefst.
Der Zirkel der Sieben
Die Mutter Bewahrerin Eyandala Ghaus Moriane nahm ihren Platz am Kopfende des Buches ein, mied die Blicke der fünf bereits
Versammelten und ließ stattdessen das runde Ratsgemach des Inneren Zirkels auf sich wirken. Sanftes Dämmerlicht verlieh ihm
den Anschein einer Kapelle. Die insgesamt sieben Sessel der Ratsmitglieder umstanden im Kreis jenes niedere, massive Podest,
auf welchem seit ewiger Zeit, unter einem schützenden schwarzen Samttuch, das Buch des Wissens ruhte. Lichtspeere fielen durch
ein kleines, ebenfalls rundes Fenster im Herzen der Kuppeldecke geradewegs auf den gewaltigen, dunkel verhüllten Folianten.
Es bestand keinerlei Veranlassung, ihn direkt unter dem Kuppelfenster platziert zu halten, und so hatte Eyandala viel Energie
darauf verwandt, ihn von dort zu entfernen, wo er so verletzlich preisgegeben schien. Die Festung bot mehr als genug Plätze,
an denen ein solcher Schatz weit sicherer verwahrt gewesen wäre. Sie hielt es für sträflichen Leichtsinn, allein auf des Folianten
Größe und Gewicht als Schutz zu vertrauen. In diesen Zeiten musste ihrer Meinung nach durchaus damit gerechnet werden, dass
ein gewiefter Dieb |414| das Buch des Wissens durch ein Werk ähnlichen Formats ersetzte und ungestraft floh. In einem
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