Das erste Schwert
längliche, sehr ausdrucksstarke Gesicht zerknitterte unter einer Miene purer Ironie – was
Eyandala zum Lächeln brachte. Roms Befähigung, Grimassen zu schneiden, wie auch, was den dürren Körper anbelangte, jede nur
denkliche Verrenkung und Gestalt anzunehmen, machten ihn zu einem idealen Anwärter für den Posten eines Hofnarren.
»Ein Vorkommnis gab es, Mutter –«, begann er.
|419| »Ja! Es wurde uns eine Substanz gestohlen, Mutter!«, platzte Adara Sul dazwischen, Initiierte des Inneren Zirkels. Wie ein
Peitschenschlag hallte ihre Stimme durch den Raum und ließ alle Anwesenden zusammenfahren. Mit ausgestreckter Hand zeigte
sie auf Bernina, ihr blasses, bildschönes Gesicht rötete sich mit hektischen Flecken, ihr dichtes schwarzes Haar bewegte sich
fast, als lebe es.
Vielleicht lebt es
tatsächlich, wirbelte ein verschwommener, unbehaglicher Gedanke durch Eyandalas Verstand. Die Experimente, die sie im Inneren
Zirkel durchführten, erbrachten oftmals gänzlich unerwartete Resultate.
»Wir haben eure Substanz nicht entwendet!«, protestierte Bernina währenddessen. »Wie kannst du es wagen – Mädchen!«
Eine handfeste Beleidigung.
Jede von ihnen war mehrere hundert Jahre alt – Adara Sul allerdings fünfzig Jahre jünger als Bernina; trotzdem hatte sie innerhalb
des Ordens eine Stellung zwei Stufen über ihr inne. Adara hasste es, an diesen Altersunterschied erinnert zu werden. Eingedenk
ihres hitzigen Temperaments konnte sich eine überaus hässliche Sache daraus entwickeln.
»Kinder!«, ermahnte Eyandala sie in nachdrücklichem Tonfall. »Ich muss euch zur Ordnung rufen! Adara Sul – Ihr habt das Wort unaufgefordert ergriffen. Jetzt aber will ich Rom hören.«
»Aber, Mutter –«, brausten sowohl Adara wie auch Bernina auf.
»Sprecht, Rom!«, befahl Eyandala mit einigem Nachdruck in der Stimme.
Der hochgeschossene, dünne Mann erhob sich aus seinem Sessel. Spöttische Lichter flirrten in seinen Augen, doch blieb sein
Gesicht betont ausdruckslos.
»Wir – nun – wir vermissen eine Substanz, von der wir meinen, dass sie gute Dienste leistete, als wir jenes Kind getestet |420| haben«, sagte er in neutralem Tonfall. »Wie es der Zufall will, verschwand sie zu einer Zeit, da Bernina sich in unserem Laboratorium
aufhielt –«
»Sie hat sie gestohlen!«, donnerte Adara Sul zornentbrannt. Und ihre Haare richteten sich auf und krochen über ihre Schultern
nach vorn.
Diese Haare
sind
lebendig!,
erkannte Eyandala mit wachsender Besorgnis, da sie sich an die alten Mythen erinnert sah.
»Muss ich Euch auffordern, das Ratsgemach zu verlassen,
Initiierte
?«, fauchte die Mutter Bewahrerin eisig. »Oder seid Ihr insgesamt Eurer Pflichten als Ratsmitglied überdrüssig? Nur allzuviele
Neulinge stehen parat, Euren Platz einzunehmen. Solltet Ihr also weiterhin darin fortfahren, unseren Frieden zu stören, werde
ich nicht zögern, Konsequenzen zu ziehen.«
Wie stählerne Klingen kreuzten sich ihre Blicke. Dann jedoch senkte Adara Sul den Kopf. »Ich entschuldige mich, Mutter«, sagte
sie.
Roms Augen leuchteten gewittergrau; undeutbar und starr blieb sein Blick auf das Buch des Wissens gerichtet, als beziehe er
Kraft daraus. »Ich hielt mich im Sanktuarium auf, zusammen mit dem Kind, als es geschah«, murmelte er. »Also sollte Euch vielleicht
doch besser Adara erzählen –«
»Erst, wenn
Ihr
nichts weiter zu berichten habt«, beschied Eyandala ihm.
Er nickte, als habe er nichts anderes erwartet. Seine dürre Gestalt schwankte kurz, blasse Lippen zuckten. »Nur eines noch«,
entgegnete er. »Dass wir einen vierzehnjährigen Jungen unter unseren Fittichen haben, der kraft seiner Gedanken Gegenstände
zu bewegen vermag – und über alle Maßen schnell lernt. In der Tat war er nun bereits imstande, einen Stuhl unter mir wegzureißen.
Ich war beeindruckt. Ganz zu schweigen von meinem Gesäß, das nicht wenig schmerzte.« |421| Sprach’s und zog ein so spitzbübisch-vielsagendes Gesicht, dass selbst die aufgebrachte Adara Sul nicht anders konnte, als
ein wenig sanfter dreinzuschauen.
Eyandala nickte und bemerkte lächelnd: »Nichts spornt ein Kind mehr zum Lernen an als das Vergnügen, dem Lehrmeister einen
Streich spielen zu können.« Es tat gut, einen Mann wie Rom im Rat zu haben. Er hatte eine ganz eigene Art, die Gemüter zu
beruhigen.
Jetzt erst wandte sie sich wieder Adara zu. »Also mögt Ihr nun sprechen«, gestand sie ihr zu.
Adara
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