Das erste Schwert
Gabelung des Flusses Elligar errichtet, über Shal Addims gesegnetes Land wachte. Ohne jede
Belehrung vermochte Skip den Tempel auszumachen, der in Form eines gigantischen vierzackigen Heiligen Sterns den Westhügel
krönte, die gezackten Wälle des Klosters, welche allem Anschein nach die halbe Stadt umschlossen, und, nach nur kurzem Suchen,
auf dem tiefergelegenen Osthügel auch das halbmondförmige Stiftsgebäude der Heiligen Frauen, dessen steinerne Mauerspitzen,
hinter einem eigenen Festungsring gelegen, geradewegs zum gewaltigen Tempel hindeuteten.
Die Stadt selbst glich einem Ameisenhügel. Tausende und Abertausende Häuser überzogen die Flanken der beiden Heiligen Hügel
bis hinauf zu den Wällen des Klosters und des Stifts. Stadtring um Stadtring, Stufe um Stufe wucherte dieser Moloch dem Fluss
entgegen, bis die Gebäude ällmählich ersetzt wurden von breiten, hohen steinernen Stufen, die geradewegs in den nebelverhangenen
Fluten verschwanden.
Als der tiefhängende Morgendunst weit genug aufriss und den Blick auch auf die Ufer freigab, erkannte Skip, dass jene steinernen
Stufen über und über mit halbnackten menschlichen Leibern bedeckt waren. Das Gesicht nach unten, lagen sie, beide Arme weit
ausgebreitet, der Länge nach hingestreckt.
»Sind sie tot?«, fragte er mit unsicherer Stimme.
Kara schüttelte bedächtig den Kopf, ohne den Blick abzuwenden. »Sie halten ihre Morgenandacht. So heißen sie die Sonne willkommen.«
»Und dabei wenden sie ihr Gesicht dem Steinboden zu?«, murmelte Erle zweifelnd.
Nicht mehr lange
, ahnte Skip, als die ersten vom Dom des |528| Shal Addim-Tempels widergespiegelten Lichtstrudel wie in tausend schäumenden, schimmernden Wasserfällen über das Leibermeer
hereinbrachen; und tatsächlich begannen sie sich nun allesamt wie eine einzige riesenhaft ausgebreitete Wesenheit zu erheben.
Und allesamt verbeugten sie sich, Arme und Gesichter in goldenem Glanz gebadet, nach Osten hin. Dann stiegen sie gemessenen
Schrittes die Stufen hinab und wateten in die trüben Wasser des Flusses hinein.
»Und jetzt? Was machen sie jetzt?«, fragte Erle.
»Die rituelle Morgenwaschung. Sie halten die Wasser des Elligar für heilig.«
Skip überschattete seine Augen. Von seinem hohen Aussichtsposten auf dem Oberdeck sah er trotz der blendenden Morgensonne
nur allzu deutlich jene schwarzen, gelben und schlammig-grünen Abwasser- und Fäkalienströme, die sich in die braunen Fluten
des Elligar ergossen. Der Geruch des Flusses veränderte sich. Nicht mehr länger roch das Wasser frisch und sauber und nach
Ufergräsern und Weite und Abenteuer, sondern nur noch überwältigend nach Verwesung und Dreck. Vor den Ufern Aknabars war der
Elligar in eine gigantische Kloake verwandelt, und sein Gestank vereinte sich, je näher man der Stadt kam, mit dem Qualm darin
schwelender Müll-Feuer zu einem kaum erträglichen Gifthauch.
»Sie verbrennen ihre Abfälle?«, fragte Erle kopfschüttelnd.
»Es ist eine große Stadt.« Kara rümpfte die Nase. »Sie entledigen sich ihrer Abfälle, indem sie sie aus den Fenstern auf die
Straße schütten und gleich dort verbrennen. Hilft immerhin, den schlimmsten Krankheiten vorzubeugen. Das, und das Heilige
Begräbnis.«
Ellah spuckte über die Reling. »Was soll das denn sein – ein Heiliges Begräbnis?«, fragte sie.
»Viele Menschen kommen in die Heilige Stadt, um hier zu |529| sterben. Das gilt immer noch als sicherster Weg geradewegs in Shal Addims Arme.« Kara lächelte freudlos, was Skip argwöhnen
ließ, dass ihr Glaube keinesfalls so tief wurzelte. Nach allem, was er auf dieser ihrer Reise gesehen und gehört hatte, vermochte
er ihr daraus keinen Vorwurf zu machen. »Wie auch immer«, fuhr sie fort. »Die Toten werden entweder verbrannt oder gleich
in den Fluss geworfen, je nachdem, wie groß ihre Sünden waren. Solltet ihr also den einen oder anderen Leichnam herantreiben
sehen – denkt euch nichts dabei. Sie wollten es genau so.«
»Leichen ...?« Ellahs Stimme kiekste.
Kara grinste, als sei ihr ein besonders guter Scherz gelungen, und ruckte mit dem Kinn auf die vor ihnen liegenden Fluten
hinab. Skip spähte wie Ellah und Erle gespannt in die angedeutete Richtung.
Ein halb verwestes Etwas drehte sich dort behäbig im Griff der Strömung, wandte ihnen ein nur mehr annähernd menschliches,
größtenteils gehäutetes Gesicht zu, in dem schmutzigbraun – wie die Wasser ringsum – leere
Weitere Kostenlose Bücher