Das erste Schwert

warum ist dieser Mann so voller Angst?
    Dann fiel sein Blick auf den Griff der Klinge.
    Es gab keinen Zweifel. Dieses ineinanderfließende Silbermuster, welches, in zwei nach außen gewölbte Blätter verwandelt, perfekt
     und behaglich die Schwerthand umfasste und schützte! Diese fein ziselierten Wellen, die sich unterhalb des Griffs schlängelten
     und in der schlichten Lederscheide verschwanden!
    Nach Luft schnappend hob er den Kopf und begegnete Haghos’ Blick.
    »Ist dies   –«, begann er.
    »Das erste Schwert, ja, Sturmgebieter.« Selbstgefälligkeit durchtränkte die kalte Stimme. Oder gaukelten ihm dies seine überreizten
     Sinne nur vor? Kreiste immer noch Gift in seinen Adern?
    |586| »Wie habt Ihr –?« Evan versagte die Stimme. Zu viele Fragen kreisten mahlstromgleich in seinem Kopf. Darunter freilich diejenige,
     wie es die Priester angestellt hatten, die meistgesuchte Waffe von ganz Tallan Dar in ihren Besitz zu bringen – und doch war
     sie nicht die dringlichste. Glaubten sie ernsthaft, er würde diese Klinge hernehmen und sie zwei unschuldigen Walder-Jungen
     in die Brust stoßen – allein um der Hirngespinste eines delirierenden Fanatikers willen, der in einem dieser beiden seinen
     Sohn vermutete?
Das
war für ihn die einzig wirklich wichtige Frage.
    »Das meint Ihr nicht ernst, oder?«, fragte er laut.
    Haghos trat, umraschelt von seiner Robe, näher an die Klinge heran.
    »Todernst, Eure Erhabenheit«, versicherte er.
    »Ihr verlangt von mir, dass ich zum – Mörder   –«
    Haghos schmunzelte. »Ihr seid so melodramatisch, Sturmgebieter«, sagte er spöttisch. »Solch ein Idealist. Eure Ahnherren heißen
     diese Art, ihre Kinder zu testen, seit Jahrhunderten gut. Ein Schwertstoß durch’s Herz. So wurde es stets gehalten. Sollte
     einer dieser Tölpel wahrhaftig Euer Sohn sein, so wird er die Probe überleben. Ganz so, wie Ihr sie dereinst überlebt habt.«
    Dorn entriegelte die stahlbeschlagene Tür zu seinen Erinnerungen und stieß sie auf. Sie schmerzten wie eh und je, auch nach
     all diesen Jahren noch. Damals hatte er geglaubt, sein Herz sei explodiert. Und heute, in diesem Augenblick, mehr als zwei
     Jahrzehnte danach, fragte er sich, ob dies nicht tatsächlich die Wahrheit gewesen war. Vielleicht hatten die Königsherzöge
     wirklich kein Herz, ganz wie es das einfache Volk tuschelte – weil es einst bei der Königsprobe von einem mörderischen Stoß
     zerfetzt worden war?
    »Eilt Euch, Eure Erhabenheit!«, drängte Haghos. »Mit Eurem Zaudern macht Ihr es nur noch schlimmer für die armen Jungen.«
    |587| »Ihr seid wahnsinnig!«, schleuderte Evan Dorn ihm ins Gesicht. »Angenommen, nur angenommen, ich bin Euch zu Willen, so ist’s
     doch ganz offensichtlich, dass keiner von diesen zweien überlebt. Was für ein Spiel spielt Ihr also,
Allehrwürdiger?«
    Haghos trat zurück. Seine hochaufragende Gestalt schien alle Luft ringsumher in sich aufzusaugen. Unversehens wurde es kälter
     in dem titanischen steinernen Kuppelsaal. Oder war dies abermals nur ein Wahngebilde, das dem in seinem Leib verbliebenen
     Gift ensprang?
    »Gewiss erinnert Ihr Euch an den Sinn und Zweck jener Prozedur, die im Volk allgemein nur als
die Probe
bekannt und gefürchtet ist, Eure Erhabenheit?«, sagte er.
    »Vage, allerhöchstens«, versuchte Evan noch auszuweichen.
    Haghos nahm es mit einem Lächeln zur Kenntnis. »Die Schwertprobe«, ließ er ihn wissen, »ist eine Sache der Könige. Eine gänzlich
     andere ist die Probe, der landauf, landab alle Neugeborenen unterworfen werden müssen – nämlich das höchst wirkungsvolle Instrument,
     all jene Kinder auszumerzen, denen   ... nun, nennen wir es   ... unglückselige Eigenschaften in die Wiege gelegt wurden, Kinder, deren Erbanlagen allzu sehr abweichen von jenem perfekten
     Erbcode, wie er im geheiligten
Buch des Wissens
niedergeschrieben steht. Deshalb, Herzog – hadert in dieser Stunde nicht mit dem, was ich von Euch erbitte. Erinnert Euch
     daran, dass Euer Sohn an der unmittelbar nach seiner Geburt vorgenommenen
Probe
gescheitert ist.«
    Plötzlich wusste Evan Dorn, was zu tun war. Er nahm das erste Schwert aus den Händen des Priesters entgegen, alle seine Muskeln
     spannten sich wie unter einem Blitzschlag an. Die Muster des Griffs verschmolzen mit seinen Händen, als sei die Waffe allein
     für sie geschaffen worden.
    »Und die Pointe Eurer Ausführungen, Allheiliger Vater?«, |588| erkundigte Evan sich beiläufig, während er die