Das Erste, was ich sah
man gerade bevorzugen wollte. Vom zweiten Vater, den er Daddy nannte, einem schlanken Beamten mit schlenkerndem Gang, wusste ich, dass er es als Buddhist mit einer edlen, aber ungesunden Religion hielt. Im Nonstop-Kino hatte ich gesehen, dass die Inder mit tief in den Höhlen glänzenden Augen vor Hunger umfielen, weil sie kein Fleisch essen durften, ihre Kühe aber hochmütig inmitten des städtischen Verkehrs zwischen Bussen, Autos und Fußgängern trotteten, weil niemand sie anzurühren wagte. Buddhisten glaubten, dass jeder schon oft gelebt hatte und noch oft leben würde, aber nicht als der, der er war, sondern als irgendein Getier oder fremder Mensch. Was sollte das für eine Wiedergeburt sein, bei der ich noch viele Male als schleimiger Regenwurm oder als warmer Hugo geboren würde! Genau betrachtet, schaute Meinrads freundlicher Daddy manchmal ein bisschen traurig drein, als würde die Aussicht auf Wiedergeburt auch ihn nicht glücklich machen, seine Lider waren schwer und seine Stimme klang müde und leise.
Meinrads erster Vater, dem er wie aus dem Gesicht geschnitten war, hieß ebenfalls Meinrad und war ein berühmter Mann. Wurden im Radio Konzerte der Salzburger Festspiele übertragen, war als Erstes ein langer geografischer Vorspann zu hören. Eine Stimme, die die Fremdheit der fremden Namen zu betonen schien, zählte auf, welche Rundfunkstationen die Übertragung übernehmen würden: Angeschlossen sind der Finnische Rundfunk Helsinki, der Schwedische Rundfunk Radio Stockholm, British Broadcasting Corporation London, Radio-Télévision Paris, der Bayerische Rundfunk, der Hessische Rundfunk, der Saarländische Rundfunk, der Norddeutsche Rundfunk, Sender Freies Berlin, Radio Beromünster, und so ging es Minuten dahin. Die Litanei fremder Orte und Länder war der spannendste Teil der Übertragung, und als alle Stationen aufgezählt waren und aus dem Hintergrund der Applaus des Publikums im Festspielhaus zugespielt wurde, folgte die Schlussformel, auf die ich gewartet hatte: »Ton und Technik – Ingenieur Meinrad Lettig.«
Wir sollten auch einmal zu den Festspielen gehen, sagte Mutter. – Warum, sagte Vater, damit ich im Anzug unter lauter Schwerhörigen sitzen muss? – Es sind nicht alle schwerhörig, bloß weil sie Geld haben, sagte Mutter. – Umso schlimmer. Wenn sie geldgierig wären, weil sie taub sind, könnte man sie noch verstehen. – Nur weil es Leute gibt, die ihren Familien ein gutes Leben bieten möchten, soll ich mein Leben lang Konzerte immer nur im Radio hören?
Kurz darauf setzten sie ihr Gespräch auf Serbokroatisch fort, und in der Woche, die folgte, haben sie es überhaupt ohne Worte geführt.
ICH WUCHS UNTER GENERÄLEN AUF , und über meine Straßen wachten Feldmarschälle. Guntram, semmelblond, mager und zäh, war etwas älter als ich und wohnte gleich ums Eck in der schmalen Danklstraße, benannt nach General Viktor Dankl, dem Sieger von Kraśnik 1914. Hatte ich ihn mit dem Roten Blitz abgeholt, fuhren wir auf den Tretrollern die Danklstraße dreißig Meter weiter und bogen nach rechts in die Tegetthoffstraße ein, benannt nach Admiral Wilhelm von Tegetthoff, dem Sieger in der Seeschlacht von Lissa. Dort holten wir Peter ab, der das Haus oft über das Fenster im Parterre verlassen musste, weil sein Vater ihn regelmäßig zu Hausarrest verdonnerte und die Wohnung von außen versperrte, wenn er mit Peters Mutter ins Geschäft, einen kleinen Elektroladen, ging. Eine solche Strafe war bei uns undenkbar, weil Mutter Hausarrest für grausam und ungesund und außerdem, da wir im vierten Stock wohnten, für gefährlich hielt. In militärischer Formation fuhren wir dann zu dritt die Tegetthoffstraße zurück, die Danklstraße in der Gegenrichtung hinauf und, nachdem wir bei unserem Haus vorbeigekommen waren, in die schräg versetzte Großadmiral-Haus-Straße hinein, benannt nach Anton von Haus, der 1917 mit seinem Schlachtschiff Viribus Unitis ins kalte Wellengrab hinabgesaust war. Hier wohnte Werner in der Dachwohnung eines Hauses, das von mächtigen Birken in immerwährenden Schatten getaucht war und überhaupt etwas Düsteres hatte, war hier doch ein rabiater Säufer zuhause, der manchmal am helllichten Tag schimpfend durch die Siedlung zog. Die Großadmiral-Haus-Straße, eine kurze Sackgasse, endete an einer Treppe, über die wir, wenn wir die Tretroller schulterten, vierzehn Stufen tiefer in die Hötzendorfstraße gelangten, benannt nach Feldmarschall Conrad von Hötzendorf, Leiter
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