Das Erste, was ich sah
Ich war ein braves Kind, das es nicht verlockte, im Geheimen gegen Gesetze zu verstoßen, aber immer die Lust verspürte, es öffentlich zu tun.
Zwei Meter über mir saß Hugo im Baum, der Bursche, den die Gleichaltrigen, wenn sie über ihn sprachen und kein Erwachsener dabei war, den »Warmen« nannten. Er schien sich damit abgefunden zu haben, nur manchmal lief er einem Peiniger nach und drosch ihm, wenn er ihn einholte, so wuchtig auf den Rücken, dass dieser zu Boden stürzte und röchelnd nach Luft schnappte. »Warmer« war ein Wort, das die Älteren verschwörerisch gebrauchten und das wir Jüngeren mit merkwürdiger Scham und Beklemmung vernahmen; wir wussten nicht, was es bedeutete, und wussten es doch, es war uns nicht recht, es nicht zu wissen, und es war uns nicht recht, es doch zu wissen. In der fleckigen blauen Turnhose, die er den ganzen Sommer trug, hatte Hugo die Beine auf einem fast waagrechten Ast ausgestreckt, als er mit rauher Stimme zu erzählen begann: »Es war einmal ein Mann, der hatte zwei Söhne. Der ältere hieß Hose, der jüngere Zipfel. Wie der Mann zum Baum kommt und sieht, dass der ältere auf dem Baum droben, der jüngere aber drunten ist, ruft er: Hose herunter, Zipfel hinauf.« Ich begriff, dass das ein Witz, aber nicht nur ein Witz war, und begann sicherheitshalber zu lachen, auch wenn mich das, was an dem Witz kein Witz war, unangenehm berührte. Da landete Hugo schon neben mir, mit einer Drehung hatte er sich fallen lassen, einen Ast umklammert und heruntergeschwungen. Er trat hinter mich, ich spürte den festen Griff seiner Hände an meinen Hüften – und schon war ich auf dem Baum, den ich bisher nur von unten bestaunt hatte. Es gefällt mir sofort da oben, und ich bin stolz, mich so rasch beim Klettern zurechtzufinden, darum rufe ich, damit man mich bestaune und meine Sünde nicht unbemerkt bleibe, so laut es geht: Hose runter, Zipfel rauf, und Frau Bichler, die es hörte, verständigte auch sofort meine Mutter.
ER WAR MEIN FEIND VON ANBEGINN , wir fürchteten und suchten einander. Heinrich war groß und unbeweglich, ich klein und flink, er verfügte über körperliche Kräfte, ich über ein freches Mundwerk. Stundenlang spielten wir einträchtig auf der Wiese, dann fielen wir urplötzlich übereinander her, nein, es war immer Heinrich, der sich auf mich stürzte, immer ich, der ihn bis zur Weißglut reizte. Rasch rang er mich nieder, drückte meine Schultern auf den Boden, presste meine Oberarme auf die Seite, sodass er auf ihren Muskeln reiten konnte, und rief keuchend: »Gib auf, gib auf!« Dieses Eingeständnis der Niederlage entkam mir selten, auch wenn der Schmerz kaum auszuhalten war. Wenn er es nicht fertigbrachte, mich zur Aufgabe zu nötigen, sprang Heinrich auf und lief weinend, weinend über sich und seine Grausamkeit und weinend über mich und meine Grausamkeit, nachhause; dort wartete seine hünenhafte Mutter darauf, ihn in die Arme zu schließen und den Schluchzenden zu ermahnen, sich doch nicht von »dem Giftzwerg« aus der Ruhe bringen zu lassen.
Ich stehe auf, die tauben Arme, in denen der Schmerz pochend wieder erwacht, fest vor dem Brustkorb verschränkt, und blicke dem Sieger nach, der das Feld geräumt hat. Ich weiß jetzt, dass ich die Macht besitze, jene, die mir Übles wollen, unglücklich zu machen.
EINEN FRIEDFERTIGEN GAB ES , und der hieß Meinrad. Er war der Größte unter den Gefährten, nachsichtig und stark, und was er nicht ertrug, waren Zank und Hader. Stritten die Freunde, nicht mit ihm, denn das ging nicht, sondern untereinander, begann er beschwichtigend auf sie einzureden, und wenn sie nicht auf ihn hörten, sprach er aufgeregt immer schneller und geriet endlich ins Stammeln. Das aber hielt er tapfer aus, bis er, unerschütterlich dabei, kein Zerwürfnis zuzulassen, wenigstens einen befristeten Frieden erreicht hatte. Am Streit, der mit kleinen Sticheleien begann und mit Ohrfeigen, Faustschlägen, Aus- und Anspucken endete, schien ausgerechnet er, den niemand beleidigen und mit dem sich keiner prügeln wollte, als Einziger zu leiden, und doch machte er sich nie davon, sondern harrte aus im Getümmel, ein Wehrturm der Sanftmut.
Meinrad war der einzige Freund, dessen Eltern geschieden waren, und weil die Mutter, eine ihrerseits gutmütige Frau, noch einmal geheiratet hatte, besaß er zwei Väter. Dieser Besitzstand war faszinierend und erschreckend, ich fragte mich, wie es war, wenn man sich dauernd zu entscheiden hatte, welchen Vater
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