Das Erwachen
jedem alles zu geben, was sie hatten. Sie war immer eine gute Tochter und eine gute Studentin gewesen, er war alles andere als ein Musterknabe; in der Highschool hatte er ab und zu eine Zwangspause einlegen müssen, weil er in irgendwelche Schlägereien verwickelt gewesen war; und aufs College hatte er es nur mit knapper Not dank eines Musikstipendiums geschafft, das er erhalten hatte, weil er ausgesprochen musikalisch war.
Sie war ihren Eltern immer sehr nah gestanden, seine Eltern waren geschieden und mit neuen Partnern verheiratet. Einmal im Monat telefonierte er mit seiner Familie, was ihm stets ziemlich schwerfiel, und seinen kleinen Halbgeschwistern schickte er ab und zu eine Postkarte oder ein kleines Geschenk, aber Besuche fanden nur selten statt. Finn hasste seinen Stiefvater und ertrug seine Stiefmutter nur mit Mühe. Er war gleich nach der Highschool ausgezogen.
Dann starb sein Vater an einem Herzinfarkt. Finn war hin- und hergerissen zwischen Wut, dass er im Testament überhaupt nicht bedacht worden war, und Schuldgefühlen, dass er sich unabhängig von seiner Abneigung gegen seine Stiefmutter nicht um mehr Kontakt bemüht hatte. Gerade als Megan dachte, jetzt würde er sie am meisten brauchen, fing er an, immer öfter auszugehen und immer mehr auswärtige Jobs anzunehmen. Eifersucht und Misstrauen breiteten sich aus – die kleinen Feinde, die sich verbünden, um eine Beziehung zu zerstören. Dann keimten Zweifel und Wut auf. Der letzte qualvolle Tropfen, der für Megan das Fass zum Überlaufen brachte, war die Flötistin, die Finn in die Band aufnahm, mit der sie auftraten, wenn sie nicht als Duo arbeiteten.
Sie ging nicht sofort weg, sie liebte ihn noch immer zu sehr. Und Streit ließ sich so einfach beilegen. Wut war ein so kraftvolles Gefühl, und so ließen sich die Streitigkeiten ohne viel Mühe beenden, indem man der Hitze und dem Adrenalin nachgab und zusammen ins Bett ging – nur um später aufzustehen und festzustellen, dass nichts gelöst war.
Zum Schluss reichten die Zweifel zu tief. Megan wollte sich den letzten Rest Selbstachtung bewahren und ihre Hoffnung auf eine eigene, erfüllende Karriere nicht zerschlagen lassen, indem sie in den Hintergrund trat und auf ganzer Linie nachgab. Sie stritten, wobei sie diesmal so aufgebracht war, dass sie ihm schließlich ein Baguette auf den Kopf schlug. Der Streit fand auf dem Balkon statt, und die Nachbarn bekamen alles mit. Beim Weitererzählen wurde aus dem Baguette eine Weinflasche; manchen Geschichten zufolge hatte sie Finn geschlagen, anderen zufolge er sie. Gerüchte verbreiteten sich, was Finn stinksauer machte; er beschäftigte sich mehr mit dem Gerede als mit Megan, bis sie ihn schließlich verließ.
Aber eigentlich konnte sie Finn nicht richtig verlassen. Sie liebte sein Aussehen, wie er sich anfühlte, seine angenehm tiefe Stimme, sein fröhliches Lachen, wie gut er roch. Ihre Familie lebte inzwischen in Maine, sie ging heim und fand Arbeit bei einem alten Bekannten, einem Gitarristen. Sie spielten Folkmusik und Rockballaden in Bistros und Cafés. Viel Geld sprang dabei nicht heraus, aber die Arbeitszeiten und die Vergünstigungen waren nicht schlecht – herrlicher Kaffee, gutes Essen und Zeit, um Lieder zu texten, eine Arbeit, der ihre wahre Liebe und Leidenschaft galt – was das Arbeiten anging. Das Leben bei ihren Eltern war unkompliziert. Sie hatten ein großes Haus in Maine, und Megan hatte einen ganzen Teil des Hauses für sich, eine Remise, aus der eine wundervolle Wohnung entstanden war.
Sie war ein halbes Jahr weg gewesen und hatte immer wieder überlegt, ob sie die Scheidung einreichen sollte. Als sie dann wieder ein Paar wurden, war er leidenschaftlich und aufrichtig, er vergaß seinen Stolz völlig. Zwischen ihm und der Flötistin war nie etwas gelaufen, und auch mit keiner anderen Musikerin, mit keiner anderen Frau, Punktum. Er konnte ohne sie nicht leben, und er wollte, dass sie zu ihm zurückkehrte.
Sie war auf der Stelle dahingeschmolzen. Sie warf sich ihm in die Arme und hätte ihn am liebsten an Ort und Stelle ausgezogen. Seitdem hatten sie über alles geredet, und sie fühlte sich geborgen und geliebt. Sie waren nach New Orleans zurückgekehrt, und Megan war sich noch keiner Entscheidung in ihrem Leben so sicher gewesen. Sie liebte Finn und würde ihn immer lieben.
Dennoch wäre es ihr lieber gewesen, sie hätte ihn hier, in Salem, mit ihrem Albtraum verschont. Trotz ihrer tiefen Verbundenheit war die Episode
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