Das Erwachen
mit dem Baguette noch nicht vergessen. Sie hatten sich zwar alles verziehen, dennoch lastete die Erinnerung auf beiden.
Erstaunlich, dass ein Gerücht so weit reisen konnte, bis nach Massachusetts. Hierher, wo alle sie kannten, sie und ihre Familie.
Eigentlich war sie nicht in Salem aufgewachsen, sondern in Marblehead, ganz in der Nähe. Obgleich sie gerne ihre Verwandten besuchten, waren sie nicht aus diesem Grund hier. Finn war eines Tages heimgekommen und hatte ihr von einem äußerst lukrativen Angebot berichtet: Sie sollten eine Woche lang in einem neuen Hotel in Salem auftreten, in der Woche vor Halloween. Ein gewisser Sam Tartan, Leiter der Abteilung für Unterhaltung und Öffentlichkeitsarbeit des Hotels, hatte einen Artikel über sie gelesen und hielt sie für bestens geeignet.
Finn war anfangs etwas skeptisch gewesen, er wollte sicher sein, dass nicht Megans Familie das Angebot eingefädelt hatte.
Aber das war nicht der Fall gewesen. Megans Eltern hatten noch nie von einem Sam Tartan gehört. Als Megan unter fremdem Namen im Hotel anrief und sich nach Sam Tartan erkundigte, wurde ihr erklärt, dass der Leiter der Hotelunterhaltung irgendwo aus dem Mittleren Westen stammte.
Die Gage war wahrhaftig beeindruckend, und das Prestige eines solchen Solo-Auftritts war verlockend. Aufgeregt hatten sie das Angebot angenommen.
Davor hatten sie sich noch einen kleinen Urlaub in Florida gegönnt, sie wollten ihre Flitterwochen nachholen. Erst das sonnige Florida, dann das schaurige alte Salem. In ihrer Abwesenheit hatten die Handwerker Zeit, ein paar Kleinigkeiten in ihrer Wohnung im French Quarter zu reparieren. Es schien alles perfekt. Vielleicht war Finn nicht klar gewesen, wie weit sich die Gerüchte schon verbreitet hatten und dass ihre Verwandten ihn anstarren und überlegen würden, ob er ein prügelnder Ehemann war und ob sich Megan nicht besser möglichst fern von ihm halten sollte.
Sie drehte sich zu ihm um und wollte ihn um Verzeihung bitten. Sie wünschte, sie hätte dieses Baguette nie angefasst.
Zu ihrer Überraschung schlief er schon. Seine Augen waren geschlossen, die Lippen leicht geöffnet, und er atmete tief und regelmäßig.
»Finn?«
Keine Antwort.
Megan schlüpfte aus dem Bett. Auch dadurch wachte er nicht auf. Verwundert runzelte sie die Stirn. Sie trat an den großen, dick gepolsterten antiken Sessel am Kamin und zog ihren Morgenmantel an. Dann schob sie die Vorhänge an der Balkontür zurück und trat nach kurzem Zögern hinaus.
Oktober in Massachusetts. Eine kühle Brise wehte, aber es war nicht ungemütlich kalt. Der Himmel war wunderschön und ein bisschen seltsam, tiefdunkel, an manchen Stellen fast schwarz, an anderen hell und fast durchsichtig. Unten auf der Straße hatte sich Nebel gebildet, und Megan musste an die Worte des verrunzelten Alten denken, der am Abend in einer Bar in der Stadt vor dem Kamin seine Geschichten zum Besten gegeben hatte.
Ja, höchstwahrscheinlich waren die, die man damals festgenommen, aufgehängt oder erstickt hatte, wie den alten Giles Corey, völlig unschuldig. Doch vielleicht waren die alten Hüter des Gesetzes nicht so töricht in ihrer Angst vor dem Bösen, auch wenn ihre Methoden, es aufzuspüren, töricht waren. Denkt doch nur, Freunde: Wenn es das Gute gibt, gibt es auch das Böse, und das Böse ist tief in der Geschichte der Menschheit verwurzelt. Zu allen Zeiten gab es Geschichten über Menschen und Monster und über Geschöpfe, die wohl dazwischen anzusiedeln sind. So wie es Engel gibt, gibt es auch Teufel. Es gibt die Bibel, aber auch Werke teuflischen Wahns. Zu allen Zeiten haben Menschen nach den Geheimnissen des Teufels getrachtet, nach Geheimnissen von Geschöpfen und Dämonen aus dem Jenseits, von wilden Wesen, an die wir uns nur in den tiefsten und dunkelsten Winkeln unseres Herzens erinnern. Es heißt, dass an Halloween, der Nacht vor Allerheiligen, die Toten aus ihren Gräbern steigen … vor allem, wenn sie gerufen und aufgefordert werden, aus den Feuern der Hölle zur Welt hinaufzusteigen und sich in das Leben und die Seelen der Lebenden einzunisten.
An dieser Stelle war ein dickes Scheit im Kamin zerborsten; die Hälfte der Zuhörer war laut schreiend aufgesprungen, dann hatten alle gelacht. Auch Megan war es so ergangen. Sie hatte nicht geglaubt, dass sie in ihrem Pensionszimmer vom Bösen träumen und laut schreien würde.
Der Nebel zu ihren Füßen wirkte bläulich. Er schien herumzuwirbeln, Schwaden zu bilden, sich zu
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