Das Erwachen
vielleicht ist sie hier.«
Morwenna schüttelte den Kopf und verzog das Gesicht. »Habt ihr zwei euch gestritten?«
Obwohl er sich verspannte, gab er sich Mühe, es nicht zu zeigen und auch nicht gleich wieder beleidigt zu sein. »Nein, ich habe nur ein bisschen verschlafen.«
»Na ja, du Ärmster, ihr arbeitet wirklich schwer und bis spät in die Nacht«, meinte sie und blickte ihm forschend in die Augen. »Aber ich habe sie heute noch nicht gesehen. Tut mir leid. Ach übrigens, du wirst es kaum glauben, aber seit ihr gestern in den Klamotten aus meinem Laden aufgetreten seid, rennen sie mir hier die Bude ein. Die Umhänge nähen wir selbst, es ist also wirklich ganz toll für die Wirtschaft hier. Ich weiß gar nicht, wie ich euch dafür danken soll.«
»Hey, du hast uns aus der Klemme geholfen, der Dank gebührt euch.«
»Wenn du meinst. Aber sucht euch doch für heute Abend noch etwas anderes aus.«
Er zögerte, dann zuckte er die Schultern. Er fühlte sich noch immer etwas unwohl in Gesellschaft von Morwenna und Joseph. Wie albern, sie taten wahrhaftig ihr Bestes. »Ich nehme eure Sachen nur ungern, Morwenna. Bei so einem Auftritt werden sie ziemlich strapaziert.«
»Ach komm – ihr tut uns wirklich einen Gefallen.«
»Na dann.«
»Willst du dir gleich etwas mitnehmen?«
Wieder zögerte er. Es war zwar absurd, doch die Vorstellung, sich in diesem Laden umzuziehen, behagte ihm nicht. Besonders wenn Megan nicht dabei war. Na großartig – er war ein erwachsener Mann, der Angst hatte, sich zu entblößen.
»Ich glaube, ich komme lieber mit Megan zurück, wenn ich sie gefunden habe. Dann können wir uns Kleider aussuchen, die zusammenpassen.«
»Super. Wenn du willst, kannst du ja rasch einen Blick auf die neuen Sachen werfen, die wir gerade hereinbekommen haben. Im Hinterzimmer, beim Lesebereich und den Umkleidekabinen. Heute kam eine Riesenlieferung, hauptsächlich Klamotten und Bücher. Schau dich ruhig um.«
Eigentlich war ihm eher danach, so schnell wie möglich aus dem Laden herauszukommen. Andererseits – er hatte sich ja felsenfest vorgenommen, eine freundschaftliche Beziehung zu Morwenna und Joseph zu unterhalten.
»Na gut.«
Er ging in den rückwärtigen Bereich. Eigentlich sollte er sich geehrt fühlen, normale Kunden kamen nicht an dem Perlenvorhang vorbei, der diesen Teil vom Laden trennte.
Der Vorhang fiel leise klirrend um seine Schultern. Finn erblickte einen Garderobeständer mit Hemden, die offenbar gerade ausgepackt worden waren. Daneben stand ein großes Dampfbügeleisen. Wahrscheinlich musste die Kleidung vor dem Verkauf gebügelt werden, da sie zusammengefaltet und zerknittert angeliefert wurde.
Er ging zu den Hemden und sah sie durch, ohne sie richtig anzuschauen. Dabei überkam ihn plötzlich das seltsame Gefühl, dass er nicht allein war. Er drehte sich um.
Keine drei Meter von ihm entfernt saß Sara vor ein paar Schachteln auf dem Boden. Sie hatte wohl Bücher ausgepackt und sortierte sie. Aber nun ruhte ihr Blick auf Finn.
»Entschuldige, ich wollte dich nicht stören«, murmelte er verlegen. »Morwenna meinte, ich soll mir die neuen Sachen ansehen.«
»Du störst mich nicht«, erwiderte sie.
Aber sie blieb weiterhin reglos mit gespreizten Beinen in schwarzen Leggings sitzen. Einen Moment lang wirkte sie wie ein unschuldiger kleiner Bengel.
»Die Bücher sind wirklich lästig«, murrte sie und hob eines hoch, das sie gerade in der Hand hielt. »Ich weiß wirklich nicht, warum Morwenna solches Zeug bestellt. Die Verfasserin ist irgendeine Reisebuchautorin, die einen kleinen Verlag im Süden hat. Es ist eine Betrachtung des Absurden, so ein Machwerk, das die wahren Praktiken der Wiccas verhöhnt.« Sie blickte auf den Rückendeckel und schüttelte gereizt den Kopf.
Als auch er einen kurzen Blick auf das Buch warf, durchfuhr es ihn wie ein Blitz. »Kann ich mal sehen?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Warum nicht. Du bemühst dich zwar, die Fassade zu wahren, aber eigentlich glaubst doch auch du, dass wir eine Horde idiotischer Heiden sind.«
»Ich glaube nur nicht an Zaubersprüche und derlei Hokuspokus«, widersprach er. »Wir leben in einem freien Land, unsere Verfassung garantiert die Religionsfreiheit. Ich glaube an unsere Verfassung. Kann ich das Buch jetzt sehen?«
Sie reichte es ihm. Er schlug es auf. Auf der vorletzten Seite war das Foto einer sehr attraktiven Frau abgebildet, ein Schnappschuss, aufgenommen am Jackson Square mitten in New Orleans.
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