Das Erwachen
mit den Fäusten auf seine Brust.
Sarah öffnete die Augen. Carmen bemerkte, wie sich ihr Gesicht veränderte, ein skeptischer Ausdruck, als könne sie heute nicht mehr glauben, was sie damals empfunden hatte. Als sei die Vergangenheit nur ein schöner Traum gewesen. Und die Erinnerung nicht ihre eigene, sondern die einer anderen.
»Bis das der Tod uns scheidet. Das haben wir uns in der Kirche versprochen. Bis das der Tod uns scheidet.« Sarah schaute nach Westen auf einen Bergrücken, der von der Morgensonne angestrahlt wurde. »Wenn ich noch länger verheiratet bleibe, dann wird das auch so sein. Dann scheidet uns der Tod tatsächlich. Einer von uns beiden wird …« Sie vollendete den Satz nicht und atmete tief durch. Und sie schüttelte den Kopf, als könne sie die Entwicklung, die ihre Ehe genommen hatte, immer noch nicht verstehen. Als könne sie sich selbst und ihre schlimmen Gedanken nicht verstehen. Gedanken, die ihr bis vor geraumer Zeit noch unmöglich erschienen.
»Was war mit deiner Mutter?«
»Arme Mama. Sie konnte meine Hochzeit nicht erleben. Sie starb einige Jahre vorher an Krebs. Aber ich trug ihr Hochzeitskleid. Und ich sah ihr verdammt ähnlich. Sie wäre stolz auf mich gewesen.«
»Und die Bindung zu deinem Vater?«
Sarah zögerte mit der Antwort. »Wollen wir ins Wohnzimmer gehen? Da kann ich mich hinlegen.«
»Sarah, ich bitte dich. Nur was du willst. Erzähl mir nur, was du willst. Ich bin für dich keine Psychiaterin, mache keine Tests und werde dir auch keine Tipps oder weisen Ratschläge geben können. Es sei denn, sie stammen aus der Erfahrung meiner Ehe. Und aus dem bisschen Lebenserfahrung, die ich vorweisen kann.«
Sarah stand auf und ging die wenigen Schritte hinunter bis zur Saar. »Sag mal, Carmen, woher kommen denn die ganzen Flaschen, Dosen und Plastiktüten? Und hier die Lappen und Lumpen, die in den Ästen der Sträucher baumeln? Schau mal, sogar ein Pullover ist darunter.«
»Die Natur verschmutzt sich selbst.«
Und als Sarah sie unverständlich anschaute, erklärte Carmen: »Vom letzten Hochwasser im Februar. Jetzt sieht es schon wieder einigermaßen gut aus. Das meiste habe ich weggeräumt. Darunter auch einen Kinderwagen. Und ein Dreirad.«
Sarah stieg wieder das Ufer hoch und blieb vor Carmen stehen. »Du hast mir in Saarburg gesagt, du seiest gedemütigt worden, als dein Mann ganz offen mit seiner Freundin auftauchte und sie überall präsentierte. Was hast du dagegen getan?«
Carmens Züge wurden hart. »Geschwiegen und gesoffen und geflennt und mich gehen lassen. Und ich habe mich zurückgezogen, jeden Kontakt vermieden. Ich wurde unausstehlich, so ein richtiger Kotzbrocken. Es wurde so schlimm, dass sogar ich es gemerkt habe.«
»Henry demütigt mich auch, aber ich ziehe mich nicht zurück.«
»Und wie ist es mit dem Alkohol? Und den Tränen? Und dem Gehenlassen?«
»Von allem etwas«, gab Sarah zu. »In letzter Zeit immer mehr. Aber ich wehre mich, lasse mir nicht alles gefallen.« Und nach wenigen Sekunden fügte sie hinzu: »Falls es mir gelingt und ich genügend Kraft habe. Und nicht an die schlimmen Konsequenzen denke.«
»Nicht alles gefallen lassen heißt, wie mit den Kratzern in seinem Gesicht. Das meinst du doch. Du wehrst dich.« »Ja.«
Carmen machte eine wegwischende Handbewegung. »Die sind in wenigen Tagen verheilt. Und wenn er mit seinen Freunden zusammen ist, gibt er damit an. So wie mit Kriegsverletzungen. Männer brauchen das. Besonders Männer wie Henry und seinesgleichen, die sich eine seltsame Hackordnung angewöhnt haben. Die fühlen sich gut, wenn sie mit solchen Dingen protzen können. Frauen und Pferde müssen gezähmt werden.«
»Leider ist es so, Carmen. Ab und zu wurde ich Zeugin von solch seltsamen Ritualen. Wenn sie, bis zu den Ohren alkoholisiert, sich gegenseitig auf die Schulter klopfen und sagen, wie gut man gewesen sei. Wie man es ihr wieder besorgt habe. Gleich drei- oder viermal. Richtig fertiggemacht habe man sie. Und auf was sie alles abgefahren sei! Alles nur Worte, nur Sprüche, ein Sammelsurium an Belanglosigkeiten. Alles leeres Gewäsch.« Sarah knabberte auf den Lippen, ihre Stimme klang belegt. »Meine Kratzer sitzen tiefer als Henrys, sind immer offen und heilen nie. Nein, nie.« Wie um ihre Worte zu bestätigen, schüttelte sie den Kopf. »Und verzeihen werde ich auch nicht. Und demütigen.., na ja, lassen wir das.«
Carmen schwieg eine Weile und schaute in Gedanken versunken hinunter auf die träge
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