Das Erwachen
rissig und mit groben Schnitzereien versehen, die so stark das Licht reflektierten, dass Arthur ihn, wie er verblüfft feststellen musste, weder zeichnen noch fotografieren konnte.
»Judith!«
Aber sie war schon wieder fort, den Stock in der Hand wie einen Bergwanderstab. Sie lief hinauf zwischen die dicht gepflanzten Bäume, die bis ans Cottage heranreichten und seine Bewohner beklommen machten.
»Ich habe etwas zu essen mit. Bis heute Abend.«
Sie fühlte sich hier freier als in Woolstone, auch freier als auf dem Hügel. Zu viele Mauern, zu viele Menschen. Freier auch von den quälenden Schmerzen, die vom schnellen Wachsen kamen. Alles hatte ihr wehgetan, und niemand hatte es verstanden. Sie war in diese Schmerzen hineingeboren worden, sie lebte mit diesen Schmerzen. Schmerzen nicht nur in den Armen und Beinen, sondern auch in den Händen, in den Hüften, im Mund, sogar im Kopf.
Ihr Dad verstand es irgendwie, und doch auch wieder nicht.
Ihr gefiel der Gedanke, dass er und Mom es nicht verstanden, nur ... na ja, ihre Mom war schwierig. Ihre Mom ging ihr auf die Nerven. Ihre Mom war noch mal etwas anderes.
»Mom?«
»Hmmm, Judith?«
»Du warst nicht hier, als ich zurückgekommen bin.«
»Ich bin es aber jetzt. Ich bin immer in der Nähe, mehr oder weniger.«
So war ihre Mom: nervig.
Margaret war alt, und wenn sie es verstand, so ließ sie es sich nicht anmerken. Sie machte einfach nur Tee und las Zeitschriften über die Angelsachsen.
Arthur war in Ordnung.
Sie waren alle genauso durcheinander und erschrocken gewesen wie sie selbst, als sie vor Schmerzen geschrien hatte. Aber das war jetzt vorbei, besonders seit dem Tag, an dem sie Bedwyn Stort getroffen hatte. Er verstand, sah sie an, ohne sich Sorgen um sie zu machen, auf gleicher Augenhöhe mit ihr.
Dann die Stunden und Tage des Entdeckens im Garten von Woolstone House. Sie hatte mit ihm am Eingang des Henges gestanden, in der Nähe der Windspiele, im Schatten der Weinrosen, umhüllt von ihrem Duft.
»Judith«, hatte er einmal gesagt, »hat deine Mom dir eigentlich erzählt, dass ich dich schon gekannt habe, bevor du geboren warst? Sie hat meine Hand auf ihren Bauch gelegt, und ich habe dein Strampeln gespürt.«
Judith hatte das Gefühl, Stort kannte sie besser als jeder andere.
Er war der Einzige, den sie vermisste und den sie gern wiedergesehen hätte, denn mit ihm zusammen zu sein war wie nach Hause zu kommen.
Aber darüber konnte sie mit niemandem sprechen, denn das hätte es verdorben, so wie eine Wildblume zu welken beginnt, wenn man sie pflückt.
Wer immer Stort war, und sie wusste es nicht genau, er nahm ihr einen Teil ihres Schmerzes ab und ertrug ihn selbst. Sie hatte bereits herausgefunden, dass es in beide Richtungen funktionierte: Sie ertrug auch einen Teil seiner Schmerzen. Schmerz erträgt sich leichter, wenn man ihn teilt.
Hier, in Byrness, konnte sie nach Lust und Laune umherstreifen, was unten im Süden nicht möglich gewesen war. Dort hatte sie im Garten bleiben müssen, damit niemand bemerkte, wie eigenartig sie aussah. Hier stand ihr eine ganze Welt offen, und wenn der Schmerz wiederkam, so schrie sie ihn hinaus in die Bäume, deren Dasein in der Dunkelheit und Abgeschiedenheit dieses Waldes ihr manchmal vorkam wie ihr eigenes. Auch sie empfanden Schmerz, denn wo sie gepflanztworden waren, wollten sie nicht sein. Jahr um Jahr standen sie dort Reihe an Reihe, immerzu in der Angst, gefällt zu werden.
Zumindest glaubte Judith, dass sie davor Angst hatten.
»Hallo«, sagte sie zu ihnen an den Tagen nach ihrer Ankunft. »Hallo, ihr Bäume. Ich bin Judith, und ich bin die Schildmaid, aber ich weiß nicht, was das bedeutet oder wie ich herausfinden kann, was es bedeutet. Hallo ... ich fühle eure Angst, und ich weiß, dass ihr meine fühlt, so wie es Stort getan hat.«
Sie stand dort im Regen und sah sehr sonderbar aus, wie eine Riesin, von der sie in Margarets Kinderbüchern gelesen hatte: groß, plump, hässlich.
Sie war nur Tage alt, höchstens Wochen, aber sie war ja auch kein Mensch.
Sie war vierzehn, vielleicht fünfzehn, niemand wusste es, aber mit Sicherheit in der Pubertät, von Schmerzen geplagt, ungebärdig und zornig, und sie war keine Hydden.
»Ich weiß nicht, wer oder was ich bin, aber ich bin hier, und mit jedem Augenblick, den ich hier bin, werde ich anders.«
Sie stand still in dem künstlich angelegten Wald mit seinen endlosen, sterilen Baumreihen – Bäume dicht an dicht wie Hühner in Legebatterien,
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