Das Erwachen
tun«, erwiderte Jack in schroffem Ton.
»Mit Verlaub, aber eine ausgebildete barmherzige Schwester kann immer etwas tun!«
Mit kräftigen Fingern strich sie ihm sanft über den Hals und die rechte Schulter.
»Sie müssen wissen, was es heißt, Schmerzen zu haben«, sagte sie leise. »Das tut mir ja so leid.«
»Nun ja, ich ...«
»Einen Augenblick!«
Sie holte einen Balsam, hergestellt nach eigener Rezeptur, rieb ihn damit ein, nachdem er sich abgetrocknet hatte, und teilte ihm mit, sie habe einen Tiegel davon in seinen Rucksack gepackt.
»Nässen die Narben manchmal? Zum Beispiel, wenn Sie angespannt sind? So wie jetzt, denn ich schließe aus dem Zustand der Narben, dass Sie in letzter Zeit großen Belastungen ausgesetzt waren.«
»Das stimmt«, erwiderte Jack grob, »und lassen wir es dabei bewenden. Aber ich danke Ihnen ...«
»Schon gut, Sir. Im Wohnzimmer wartet ein kräftiger Tee auf Sie. Und ein Gast.«
Jack kleidete sich an, und als Stort wieder erschien, fragte er ihn flüsternd: »Wer könnte mich denn besuchen?«
Stort wich einer Antwort aus. »Spute dich, Jack, unsere Zeit ist knapp bemessen, und es gibt viel zu tun. Zieh dir etwas an, sie wartet.«
»Wer wartet?«, fragte er, aber Stort war schon wieder verschwunden.
Als Jack die Tür zum Wohnzimmer aufstieß, schlug ihm ein Schwall von Düften entgegen – blumig, kräftig und verwegen, wie von einer Frau, die nicht mehr ganz jung war, es zuweilen aber gerne noch wäre.
»Mein lieber Jack!«, rief Ma’Shuqa und schlang wie immer die Arme um ihn. »Willkommen zurück!«
Er erwiderte ihre Umarmung, wobei seine Hände in den Brokatund Seidenschichten ihres Bilgenerinnenkleides versanken.
»Du liebe Zeit«, rief sie aus. »Sie sind ja noch größer und stärker geworden. Aber so sollte ein Knüppelmeister auch sein.«
Stort steckte den Kopf zur Tür herein und vermeldete, er habe bereits Tee getrunken, wolle keinen mehr und werde sie nun allein lassen.
»Wozu?«, fragte Jack, aber Stort war bereits wieder fort.
»Also ...«, sagte er vorsichtig, während er sich über Clucketts Sandwiches und Kuchen hermachte. »Was haben Sie auf dem Herzen?«
Ma’Shuqa kam ohne Umschweife zur Sache.
»Es geht um eine heikle und schwierige Angelegenheit, die offen und unverblümt anzusprechen meine Pflicht als Adoptivmutter ist. Ich nehme an, Sie wissen, wovon ich spreche?«
Jack hatte keine Ahnung, von was oder wem sie sprach.
»Von der Frau, deren Leben Sie zerstört haben!«
»Ich? Von welcher Frau denn?«
»Meiner süßen Schutzbefohlenen, der armen Hais, die Sie so schmählich verraten und am Boden zerstört zurückgelassen haben.«
»Hais?«, fragte Jack stirnrunzelnd. »Die junge Bilgenerin, die ...«
Die Erinnerung kam wieder, und sie berührte ihn sonderbar. Seit jenem Tag, als Bruntes Aufstand in Brum getobt hatte und er mit Stort, Festoon und den anderen vor dem drohenden Tod geflüchtet war, hatte er kaum noch an sie gedacht.
Jack hatte an einem Verlobungsessen teilgenommen, bei dem Hais, eine Bekannte Katherines, die zukünftige Braut gewesen war. Möglicherweise hätte er das Ereignis völlig vergessen, hätte er nicht unabsichtlich einen Knoten – einen magischen Knoten, wie die Bilgener ihn nannten – gelöst, was bedeutete – so wollte es der Brauch –, dass eigentlich er dieser Hais hätte anverlobt werden sollen. Das Ganze war reiner Zufall gewesen, und er war so dringend andernorts gebraucht worden, dass er sich bei der Gesellschaft und Hais entschuldigt und das Fest verlassen hatte. Doch es stimmte, dass er und Hais einen Blick getauscht hatten, aus dem unter anderen, günstigeren Umständen vielleicht Liebe hätte erwachsen können. Doch das Schicksal trennte ihre Wege. Jack und Katherine gingen ihren gemeinsam, bekamen Judith, und der ganze Vorfall war eigentlich nichts weiter als eine unangenehme Erinnerung. Niemand hatte etwas getan, was er bereuen musste.
Doch Ma’Shuqa war auf dem Kriegspfad.
»Ich denke dabei nur an sie, Jack, und dies tue ich seit jenem traurigen und folgenschweren Tag, an dem Sie den magischen Knoten gelöst und dadurch großen Kummer und viele Tränen heraufbeschworen haben.«
»Ich habe es nicht mit Absicht getan«, sagte er. »Er hat sich in meiner Hand gelockert.«
»Aber jetzt sind Sie verheiratet und haben ein Baby.«
»Ich bin in festen Händen, ja ...« Aber »Baby« war kein Wort, das auf Judith passte. Sie hatte so wenig von einem Baby wie ein Sommergewitter.
Jack witterte
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