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Das Erwachen

Das Erwachen

Titel: Das Erwachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Horwood
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nicht, die Steine so nah beieinander zu wissen. Von ihnen geht Gefahr aus. Ja, ich glaube, den Steinen missfällt es, solchermaßen zweckentfremdet zu werden. Und was gedenkt mein Herr nun zu tun? Er will sie nebeneinander ausstellen, sie der Welt zeigen.«
    »Was ist schon dabei?«
    Blut schüttelte den Kopf.
    »Es kann gutgehen. Oder eine ähnliche Wirkung haben wie ein brennendes Streichholz, das man an einen mit Benzin übergossenen Holzstoß hält. Nur der Spiegel weiß, was für eine Feuersbrunst dabei entstehen kann. Mir ist bei dem Gedanken nicht wohl, Madam, ganz und gar nicht wohl.«
    Leetha überlegte und sagte dann: »Wir werden das Wagnis eingehen, wenn er es wünscht. Ohne ihn wären wir nicht hier.«
    Sie standen in den Privatgemächern des Kaisers, auf dem Flur hinter dem gewirkten Wandbehang, der im Rücken des Throns in der Großen Halle hing, und unterhielten sich in gedämpftem Ton. Ein Schatten fiel auf sie, eine Stimme sprach.
    »Wie wahr, meine Liebe, wie wahr.«
    Es war Sinistral, der aus der Tiefe heraufgekommen war. Er hatte alles mit angehört.
    Er hob eine Hand, als sich Bluts Augen vor Angst weiteten.
    »Verrat vielleicht, Blut, aber nicht verräterisch. Sie haben recht: Sie stehen in meinem Dienst, damit Sie die ungeschminkte Wahrheit sagen.«
    »Vielen Dank, Herr. Sie sehen gesund aus, aber müde.«
    »Ich bin gesund und müde. Nun lassen Sie mich raten: Sie wollten sagen, ich sei um meine Vernunft gekommen.«
    »Ja, Herr. Gestern sagten Sie zu mir, Sie könnten spüren, wie die Erde denkt.«
    »Das kann ich.«
    »Sie sagten, Sie könnten in Leuten mehrere Leben gleichzeitig sehen.«
    »Auch das kann ich ... Ich sehe sie durch die Korridore Bochums hasten, Dinge tun, in eine bestimmte Richtung gehen, wenn sie eine andere einschlagen sollten ... Ich sehe ihre verschiedenen Leben nur allzu gut.«
    »Sie sehen sie wirklich, Herr?«, fragte Leetha. »Sie bilden es sich nicht nur ein?«
    Sie setzte sich. Ihre Kleidung war mit dem hellen Grau durchwirkt, das dem Kaiser so gefiel. Seine war schwarz. Das blonde Haar trug er glatt gekämmt, die Augenbrauen mit einer Paste aus Zitronensaft, Galläpfelabsud und Eisenrost geschwärzt, die Lippen mit einem Hauch Kreide geblässt. Genau wie sie.
    »Ich sehe diese Leben so deutlich wie Brot. Wie ein Brot, das heute Morgen gebacken wurde und daher geschnitten werden kann. Ich sehe sie als dieses Brot, und ich sehe sie als seine Scheiben.«
    »Als Teile, die ein Ganzes bilden, Herr?«
    »Nein, Blut, nicht in dem Sinn, den Sie meinen. Die Scheiben sind ihre verschiedenen Leben, die in dieser Welt gelebt werden und von denen jedes das Resultat einer anderen Entscheidung ist. Ich beschließe, Sie wegen Verrats hinrichten zu lassen, und tausend Scheiben entstehen daraus. Ich beschließe, es nicht zu tun, und tausend andere kommen ins Spiel. Es sind unendlich viele, deshalb sehe ich natürlich nicht alle. Nur die interessanten.«
    Leetha dachte darüber nach und begriff, was Blut gemeint hatte. Solche Vorstellungen waren, gelinde gesagt, absonderlich und möglicherweise ein Anzeichen dafür, dass es um die geistige Gesundheit des Kaisers nicht zum Besten bestellt war.
    »Er wird dir sagen, meine Liebe, dass ich bisweilen unter Übelkeit leide. Ich muss mich übergeben wie Slew, und er glaubt, und vermutlich zu Recht, dass der Stein die Ursache dafür ist.«
    »Das hat er bereits gesagt, Majestät.«
    »So, hat er das?«
    Bluts Miene blieb ausdruckslos.
    »Weiß er, nebenbei bemerkt, dass es Hochverrat ist, den Kaiser für geisteskrank zu erklären?«
    Blut beantwortete die Frage selbst, um die beiden daran zu erinnern, dass er noch da war. »Das tue ich und sollte es auch. Ich habe dieses Gesetz nämlich selbst aufgesetzt.«
    »Siehst du, Blut spricht immer die Wahrheit. Täte er es nicht, müsste ich ihn töten lassen. Da er es aber tut, sehe ich davon ab. Die Wahrheit, in die richtigen Worte gefasst, besitzt sehr große Macht. Ermuntert dazu. Nun muss ich aber gehen.«
    Immer noch lächelnd entfernte sich der Kaiser und ließ sie allein.
    »Das wäre noch etwas, Gnädigste«, flüsterte Blut. »Unser Herr sitzt mit Witold Slew, Ihrem Sohn, oben im Freien, hält den Lederbeutel in der Hand und füttert ihn mit kurzen Blicken auf den Stein des Sommers, als wäre dessen Licht ein Beruhigungsmittel.«
    »Was noch?«
    »Er möchte Brum zerstören, nun da er weiß, dass die Fyrd aus der Stadt vertrieben wurde.«
    »Das ist in der Tat verrückt«, sagte

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