Das Erwachen
Dringlichkeit. »Die müssen Sie nehmen, denn sie führt in die liberté, aber aufgepasst, da draußen gibt es chiens méchants ...« Er zuckte gelassen mit den Achseln. »Aber in der Not frisst der Teufel Fliegen, n’est-ce pas?«
»Kommen Sie denn nicht mit?«
»Ah non!«, antwortete Parlance traurig. »Ich muss nach meinem Soufflé sehen!«
»Na dann ...« Plötzlich zögerte Jack.
Allmählich dämmerte ihm etwas.
Wenn Slew sein Bruder war und diese Frau Slews Mutter, dann musste sie auch seine Mutter sein ...
Die Tür, die sie verriegelt hatten, wurde mit Fußtritten und Knüppeln traktiert. Lange würde sie nicht standhalten.
»Rasch, mes braves! Fort mit eusch ... ’usch, ’usch.«
Jack und die anderen gehorchten, den Kopf voller Fragen, aber auch in der Gewissheit, dass die Steine in Storts sicherem Gewahrsam waren.
»À bientôt!«, rief Parlance und lief zu der verriegelten Tür, die in dem Augenblick nachgab, als Jack und die anderen um die Ecke verschwanden. Der Koch tat so, als habe er gerade versucht, sie zu öffnen.
»Ah! Messieurs et Madame! Isch bin so klein, dass isch nischt an den Riegel komme! Aber rasch, Sie können die monstres aus Brum noch fangen, sie sind dort die Treppe ’inunter ...«
Sie stürmten in die Richtung, in die er deutete, Slew an der Spitze, Blut hinterdrein.
Kaum waren sie fort, flitzte Parlance die Treppe hinauf und verriegelte die Tür, durch die Jack und die andere in die Außenwelt entkommen waren.
Dann blickte er auf seine Uhr, wischte sich die Stirn ab und eilte die Treppe hinunter in Richtung der kaiserlichen Küche.
43
ABEND
A ls Katherine und die Foales nach Woolstone zurückkehrten, fühlte sich Margaret immer noch unwohl. Am nächsten Tag fuhr Arthur mit ihr zum Arzt nach Oxford. Katherine hätte gern das Fahren übernommen, aber Margaret wollte lieber mit Arthur allein sein.
Bis letztes Jahr war sie in ihrem Leben nie krank gewesen. Es hatte immer nur Arthur erwischt, und sie hatte sich dann um ihn gekümmert. Jetzt war es an ihm, sich um sie zu kümmern, und daran war nichts verkehrt.
Sie waren mittlerweile fast ein halbes Jahrhundert verheiratet, hatten gute und schlechte Zeiten erlebt und den Punkt erreicht, an dem in bestimmten Fällen Worte überflüssig waren.
Dies war so ein Fall.
Ihre Stürze waren ein deutliches Warnzeichen gewesen, dass es mit ihrer Gesundheit nicht zum Besten bestellt war. Ihr Arzt nahm sie sehr ernst, hatte auf regelmäßigere Untersuchungen gedrängt und ihr Tabletten gegen Bluthochdruck verschrieben. Dies alles sprach eine deutliche Sprache, und beide wussten, dass nichts mehr so sein würde wie zuvor. Doch am vielsagendsten war, dass Margaret kaum noch zu etwas Lust hatte, dass sie nicht mehr spazieren gehen und nicht einmal im Garten arbeiten wollte.
Vor dem Tod fürchtete sie sich nicht. Sie hatte ein gutes Leben gehabt und war jetzt müde und begann loszulassen. Sie hatte Angst vor dem Verlust, aber nicht vor dem Tod selbst, und bei ihrem Arztbesuch wollte sie niemanden außer Arthur bei sich haben.
»Du kannst dich ausruhen, Liebes«, sagte sie zu Katherine, »dich ausschlafen. Es war für uns alle eine schwere Zeit.«
Der Termin war um zehn Uhr morgens, und so fuhren sie um halb neun los. Um elf rief Arthur zu Hause an und teilte Katherine mit,dass es zu Verzögerungen gekommen sei und weitere Untersuchungen anstünden.
»Ist alles in Ordnung?«
»Sie ist sehr müde, Katherine«, war alles, was er sagte.
Müde, das war Katherine auch, aber schlafen konnte sie nicht. Sie war unruhig, nervös, und es war das erste Mal seit Judiths Geburt, dass sie im Haus allein war.
Sie vermisste Jack und Judith schrecklich und litt wie noch nie.
Verzweifelt stand sie auf. Da die Stille im Haus sie bedrückte, ging sie auf die Terrasse und lauschte dem Garten und den Windspielen ... Tatsächlich, so dachte sie bei sich, war es das erste Mal seit Jahren, dass sie in Woolstone allein war. Vielleicht das erste Mal überhaupt.
Sie erblickte eine große, hagere, verhärmte Frau in der Glaswand des Wintergartens: die Kleidung ohne jeden Schick, das Haar strähnig, die Haltung gebeugt. Eine geschlagene Frau. Sie brauchte eine Weile, ehe sie sich erkannte.
Sie blickte durch ihr Spiegelbild in den Wintergarten, in dem ihre Mutter, ans Bett gefesselt, so lange gelitten hatte. Ihre letzte und einzige Erinnerung an die Zeit, als ihre beiden Eltern noch gelebt hatten, war der Tag, an dem sie Jack in dem Ärztezentrum in North
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