Das Erwachen
Yorkshire aufgelesen hatten. Heute war das Gesicht ihres Vaters nur noch eine Fotografie, mit der sie keine realen Erinnerungen verband. Mit ihrer Mutter verhielt es sich anders.
»Mom«, sagte sie laut ...
Mom, ich würde gern mit dir reden.
Mom, ich weiß nicht, was geschehen ist.
Mom, ich habe alles falsch gemacht.
Mom, ich fühle mich innerlich und äußerlich wie abgestorben.
Mom, warum hast du mich alleingelassen?
Sie ging wieder hinein und nach oben in ihr Zimmer.
Keine Freunde, mit denen sie reden konnte.
Zuerst Mom fort, dann Judith, wie in einem schlechten Traum, der gekommen und gegangen ist und Verwüstung in meinem Herzen hinterlassen hat.
Jack ist fort, er ist gegangen, und er war mein Halt, und ich habe Angst, er könnte nie wiederkommen.
Alle sind fort, nichts und niemand ist geblieben. Alles ist sinnlos geworden, ohne Ziel.
Sie weinte, weil sie alle verloren hatte.
Auf ihrem Schreibtisch am Fenster stand eine alte Geburtstagskarte.
Sie war von ihrer alten Schulfreundin Samantha, die mit ihren Eltern nach Hongkong gezogen war, als ihr Vater dort eine Stellung angenommen hatte. Und später nach Australien. Sie war nie zurückgekommen, aber sie hatten einander Karten und E-Mails geschickt, und sie wusste alles darüber, wie Jack in Katherines Leben getreten war.
Als sie nach Hyddenwelt gegangen waren, hatte Katherine aufgehört, Sams E-Mails zu beantworten, die sich in ihrem Posteingang stapelten, bis er überquoll. Und als sie zurückgekehrt war, um ihr Kind zu bekommen, hatte sie keine Zeit gehabt, die E-Mails durchzusehen oder Sam zu schreiben. Was hätte sie ihr auch sagen sollen? Was hätte sie ihr überhaupt sagen können ? Für jeden anderen hätte es keinen Sinn ergeben.
Doch nun schaltete sie den Computer an und fand eine Datei mit Sams alten Mails, darunter auch die mit ihrer Adresse und Telefonnummer in Australien.
Wie spät war es dort jetzt?
War man dort in der Zeit voraus oder hinterher? Sie wusste es nicht mehr, und es war ihr auch egal.
»Sam?«
Eine alte Frau war am anderen Ende der Leitung. Vielleicht Sams Mutter. »Ich hole sie. Was soll ich sagen, wer ...?«
Aber Katherine brachte ihren eigenen Namen nicht über die Lippen.
»Sam! Für dich. Ich weiß nicht. Nein. Eine Frau. Ja.« Dann, zu Katherine. »Sie kommt.«
»Hallo?«, sagte Sam.
Katherine saß da, atmete, atmete nicht, schwieg und doch auch wieder nicht.
»Hallo ...?«
Sams Stimme, sanft, wie sie immer gewesen war. Damals, vor all dem.
Vor all dem.
»Sam?«
»Ja ...«
»Sam ... ich ...«
»Katherine?«
»Ich ... Sam ... ich ... ich ...«
Katherine weinte nicht leicht. Und mit Sicherheit hatte sie noch nie so geweint wie jetzt. Sie weinte, als wollte sie nie wieder aufhören. Sie heulte. Sie heulte wie ein kleines, verletztes Tier, das nichts und niemanden hatte.
»Katherine, was ist denn los?« Sams Stimme klang mitfühlend, und dann weinte auch sie, denn in Katherines Tränen hörte sie das Weinen der Welt. »Ist es so schlimm?«
»Ja ... aber ... ich kann nicht ... oh, Sam, ich kann nicht ...«
Ich kann es nicht sagen, weil niemand es verstehen kann, weil niemand es jemals verstehen kann, und es ist nicht schlimm, es ist noch schlimmer, es ist ...
»Hör zu, Katherine, ich werde dir jetzt Fragen stellen, so wie wir es früher immer gemacht haben, wenn wir etwas nicht sagen konnten, weil es uns zu peinlich war. Weißt du noch? Ich frage, du antwortest. So ist es leichter.«
»Okay.«
»Vermisst du deine Mom?«
»Ja. Aber das ist es nicht.«
»Hat es mit Männern zu tun?« Sams Stimme lächelte und hörte dann auf zu lächeln.
»Nein. Schlimmer.«
»Jack? Ist er ...«
»Nein, es geht nicht um Jack.«
Das ist eine wichtige Erkenntnis , dachte Katherine: Es geht nicht um Jack.
»Okay ...« Sam überlegte. »Du bist schwanger.«
Schweigen. Was sollte sie darauf sagen? Tiefes, tiefes Schweigen.
»Schlimmer.«
»Du ... du ...« Sam dachte über das lange Schweigen und den möglichen Grund dafür nach. Und darüber, warum ihre Freundin jetzt anrief. Und was schlimmer sein konnte.
»Du hast schon ein Kind?«
»Ja.«
»Und ... es ...«
»Sie.«
»Sie ...?«
»Ja.«
Das war das Schlimmste, diese Lüge, die nicht direkt eine Lüge war.
Ja, sie ist gestorben.
Sie war eigentlich nie mein Baby.
Sie ... ich weiß nicht, was sie war, was sie ist ... und ich weiß nicht, was ich denken oder was ich empfinden soll.
Katherine weinte hemmungslos.
»Ich weiß nicht, was ich tun soll
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