Das Erwachen
hörte, es erschien ihm wie die Musik seines Lebens im Guten wie im Schlechten.
Der Flug einer Biene aus seiner Kindheit, welke Blütenblätter im Frühsommerwind, rotes Blut, das aus einer Wunde quoll, das helle Sonnenlicht in dem Blut, wieder seine Schwester, wie sie fiel, wie sie an einem Sommertag in einen klaren Bach stürzte. Zusammen mit diesen erinnerten Augenblicken stellten sich auch die Gefühle wieder ein, die sie begleitet hatten. Bei den meisten empfand er Glück, bei anderen Trauer oder Erregung, bei wenigen Langeweile.
Erstaunt blickte er auf diese bruchstückhafte Welt seiner Sommer. Sich selbst sah er nur ein einziges Mal, dunkeläugig, eine Hand erhoben zu grünen Blättern, dazu das Gurren einer Taube in dem Wald, den er durchstreifte.
»Niklas! Niklas!«, hörte er in jenem Sommer, als er dreizehn gewesen war, seine Schwester rufen und wunderte sich – bevor er sich zu ihr umdrehte und ihre Hand berührte.
Dieser Strom aus tausend Bildern wogte auf und ab wie ein Starenschwarm am Himmel über Bochum, und jedes einzelne Bild war real und stand jetzt ebenso deutlich vor ihm wie damals.
Dann wurde es dunkler, und mit Erstaunen sah er einen anderen Strom von Spiegelscherben, Bilder von Sommern, die nicht seine eigenen waren. Die des Kaisers? Leethas? Er wusste es nicht. Er griff nach ihnen, und sie drangen durch seine Hand, jagten in seinen Kopf, nahmen ihn gefangen, bis er den Stuhl des Kaisers nicht mehr halten konnte und zu Boden sank. Sein Körper spiegelte, was er, sein Körper, sah, nämlich den Kaiser in seinem Stuhl. Nun wieder bei Kräften schlug dieser um sich, bäumte sich auf, lachte. Der Stuhl drehte sich ins Licht, den Scherben zu, und Blut wurde selbst zur Scherbe, zu tausend Scherben, von denen keine wie die andere war, jede eine Erinnerung an diesen Stuhl, manche schwarz und lichtlosaus der Schlafenszeit des Kaisers. Dann war die Prüfung durchstanden. Der alte Kaiser war fort, sein junges Ich zurück, im Sommer seines Lebens.
»Blut?«
Er öffnete die Augen. Die sonnendurchfluteten Bilder wichen der Dunkelheit der Kammer.
»Niklas!«
Er rappelte sich auf und blickte in dunkle, schöne Augen. Ihr Duft stieg ihm in die Nase, der Wohlgeruch des Sommers.
Sie lächelte ihn an.
»Danke«, sagte sie, »der Kaiser ist wieder er selbst.«
Die Kammer lag im Dunkeln. Die Monde waren erloschen, die Gurte am Stuhl zerrissen, die Luft warm und erfüllt von pulsierendem Leben und üppigen Sommergerüchen.
Der Kaiser ergriff seine Hand und sah ihn an aus Augen so schön, wie sie immer gewesen waren, das Haar voll und zerzaust wie ein Weizenfeld im Juniwind.
»Blut, mein Freund, das haben Sie gut gemacht.«
Die Augen lächelten, die Lippen waren fest, die Wangen sonnengebräunt, der Körper kräftig, die Hände so, wie die Hände eines Hydden im besten Mannesalter sein sollten.
»Aber Sie haben noch etwas zu tun.«
Blut versuchte sich zu konzentrieren, sich darauf zu besinnen, wo er war.
Er versuchte das Traumbild, das vor ihm stand, zu begreifen, doch es war kein Traumbild, sondern Wirklichkeit.
»Gehen Sie, Blut, und sagen Sie ihnen, dass ihr Kaiser zurückgekehrt ist.«
»Majestät ... Gnädigste ...«, sagte er atemlos.
In blühender Gesundheit standen sie vor ihm.
»Ist es ... haben Sie ... sind wir ...?«
»Ja«, sagte Slaeke Sinistral I., Kaiser von Hyddenwelt, »meine Prüfung ist vorüber, Ihre Aufgabe hier erfüllt. Ich bin zurückgekehrt. Gehen Sie jetzt, überbringen Sie meinem Volk die frohe Botschaft.«
»Sehr wohl, Herr, sehr wohl ...«Doch als er sich auf Ebene 2 den Weg durch eine erregte Menge bahnte, die bereist ahnte, dass ihr Kaiser wieder wohlauf war, verspürte Blut eine eigentümliche Traurigkeit.
Er dachte an den kranken alten Kaiser, den er in den vergangenen Wochen kennengelernt hatte: ungeduldig, reizbar, tapfer, von Schmerzen gepeinigt, humorvoll, so wirklich, wie etwas nur sein kann. Blut fragte sich, wo genau er geblieben war und warum er ihn vermisste.
Er dachte auch an den Flug durch den weiten Raum all seiner Sommer, an die Erinnerungsfetzen, die noch vor Augenblicken einen dunklen Ort erhellt hatten.
Er trat in die Große Halle, durchmaß sie in ihrer ganzen Länge, drehte sich um und lächelte die Höflinge an, die bei seinem Erscheinen verstummt waren.
»Ihr Kaiser ...«, begann er.
Während er diese Worte sprach, erschallten Trompeten und unter dem Jubel der Leute erschien der Kaiser, seine Liebste am Arm. Und Blut hörte in seinem
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