Das Erwachen
Kopf wieder die Worte seiner Mutter aus jenem Sommer, als seine Schwester gestorben war und er die ersten bitteren Tränen seines Lebens vergossen hatte: Genieße das Leben, solange du kannst, mein Liebling, denn jeder Sommer geht einmal zu Ende.
19
BRUDER SLEW
V om norddeutschen Emden aus stach Witold Slew in der Dämmerung mit einem schwarzen Kutter Richtung Englalond in See.
Die Besatzung bestand aus Friesen, den zähesten und besten Seeleuten der Fyrd-Flotte, die es gewohnt waren, bei rauhem Wetter, wie es an diesem Abend herrschte, über die Nordsee zu segeln.
Ein kräftiger Nordwind und die mond- und sternenlose Nacht boten ideale Bedingungen für eine schnelle Überfahrt und eine unbemerkte Landung an der flachen Küste von Essex, sofern die Seeleute ihr Handwerk verstanden.
Davon gab es nicht viele.
Zu weit nördlich, und die Landung endete böse. Zu weit südlich, und das Schiff erreichte womöglich nie die Küste und lief auf die Sandbänke der Goodwins, auf denen es leicht auseinanderbrechen konnte. Aus diesem Grund hatte Slew den besten Kapitän ausgewählt, dessen Vorfahren die Überfahrt in den letzten fünfzehnhundert Jahren schon oft bei schlechterem Wetter als diesem gemacht hatten.
»Sind Sie Borkum Riff?«
»Wer spricht?«
Slew tauchte, in seinen Schattenmantel gehüllt und bewaffnet, aus einer Dunkelheit auf, die vorher nicht da gewesen war, und hielt ihm das kaiserliche Siegel hin.
»Namen sind, denke ich, nicht nötig.«
Riff hatte schon viele Fyrd übergesetzt, aber noch nie einen wie Slew.
Er prüfte das Siegel mit schwieligen Händen, ohne eine Miene zu verziehen. »Wir laufen sofort aus«, sagte er. »Ich will Ihren Namen und den Zweck Ihrer Reise gar nicht wissen. Bleiben Sie unter Deck.Der Wind frischt auf, also machen Sie sich darauf gefasst, dass Sie keinen Schlaf finden und seekrank werden.«
»Tatsächlich?«, erwiderte Slew.
»Sollten Sie sich übergeben müssen«, fuhr Riff fort, »machen Sie die Schweinerei selbst weg, bevor wir Sie an Land absetzen. So lautet die Regel. Sie würde auch für den Kaiser höchstpersönlich gelten, wenn er geruhte, diese kurze Fahrt zu machen.«
»Das wird er eines Tages ohne Zweifel. Er wurde in Brum geboren. Alle Hydden kehren einmal im Leben nach Hause zurück.«
Riff, Gespräche dieser Art nicht gewohnt, sagte: »Verstanden?«
Slew schmunzelte, ging geradewegs unter Deck, schlief und übergab sich nicht.
Als er erwachte, dämmerte es bereits, und direkt voraus hob sich die flache Küste von Essex silberschwarz von einem dunkelgrauen Himmel ab. Glockenbojen läuteten. Der Lichtstrahl eines Feuerschiffs strich über den Himmel.
»Morgen!«, grüßte er.
Die Seeleute schwiegen, aber respektvoll. Sie mochten Passagiere, die keine Umstände machten und sich nicht beschwerten, wenn sie an Deck kamen. Sie mochten sie noch mehr, wenn sie keine unangenehmen Gerüche hinterließen.
Der bärtige, breitschultrige Borkum Riff nickte beifällig.
»Wasser?«, fragte Slew.
Ein Besatzungsmitglied reichte ihm einen Blechnapf.
»Frisch?«
»Taufrisch.«
Slew spülte sich den Mund aus, spuckte es über Bord und bespritzte sich Gesicht und Hals. »Wie lange noch?«
Riff gab eine für seine Verhältnisse ausführliche Antwort: »Von hier aus kann man sie nicht sehen, aber direkt vor uns liegt die Isle of Maldon. Sie ist mit dem Festland durch eine Dammstraße verbunden, die in einer halben Stunde, bei halber Ebbe, trocken fällt. Die Sonne geht in einer Stunde auf.«
Die restliche Fahrt über standen sie Seite an Seite im Dunkeln, was Riff normalerweise nicht behagt hätte.
Aber mit Slew war es etwas anderes.
Der Erste, der nicht seekrank geworden war, sich nicht übergeben und nichts Unseemännisches gesagt hatte.
»Wie wollen Sie angesprochen werden?«, fragte Slew, als sie die Seeseite der Insel erreichten.
»Riff genügt. Und Sie?«
»Ich dachte, Sie wollen keinen Namen wissen?«
»Es liegt in der Wurd der Dinge, dass wir beide uns wieder begegnen werden. Das sagt mir die See, das Auf und Ab der Wellen. Leute wie Sie und ich sind rar. Wir werden uns wiedersehen, und Sie werden mich brauchen und ich Sie. Also ... wie lautet Ihr Name?«
»Witold Slew.«
Sie gaben einander die Hand.
»Ich brauche drei Wochen, und ich möchte, dass Sie mich dann abholen, Riff, kein anderer.«
»Mit Vergnügen. Wir werden drei Tage nach dem einundzwanzigsten auf Sie warten. Dann ist Vollmond. Wenn es später wird, müssen Sie sich bei einem anderen
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