Das Erwachen
nur wenige an Bord genommen hatten. Später hatten mehr Leute dort gestanden, vorwiegend junge, wie er sich erinnerte, und Boote waren gekommen und hatten sie nacheinander abgeholt.
Jetzt stand nur noch einer da, ein Junge, ganz allein am äußersten Ende des Stegs, und blickte aufs Wasser, auf dem orangefarbene Lichter trieben. Auf der Landseite drängten sich noch weitere Leute, dicht beieinander wie eine Familie, alte und junge, Männer und Frauen, und unterhielten sich mit gedämpften Stimmen.
Sie beobachteten den Jungen unauffällig mit traurigen Mienen. Aber sie blickten auch aufs Wasser und hielten nach einem Boot Ausschau.
»Bis Sonnenaufgang wird er sich nicht von der Stelle rühren«, hörte Stort einen von ihnen sagen, »obwohl um Mitternacht Geisterstunde ist.«
»Er wird immer fest daran glauben und hat immer fest daran geglaubt, dass sein Pa ihn in dieser Nacht holen kommt. Nur ... es ist traurig, dass in Paley’s Creek immer einer übrigbleibt, dessen Wunsch niemals ...«
Stort wandte sich an die Alte und flüsterte: »Von wem sprechen sie?«
»Von dem Jungen.«
»Worauf wartet er?«
»Sieh zu, dann wirst du es erfahren.«
»Aber ich weiß es bereits«, sagte Stort. »Natürlich weiß ich es, denn auch ich habe einmal auf einem Steg gestanden und gewartet so wie er jetzt. Die ganze Nacht hindurch und dann noch eine und noch eine, bis er ...«
Ihre Hand umklammerte seinen Arm fester. »Ja«, sagte sie.
»Aber er ...«
Stort brachte es nicht über sich, die Wahrheit auszusprechen, so wie er auch den Anblick des wartenden Jungen nicht ertragen konnte, der allein auf dem Steg stand, den aufsteigenden Nebel beobachtete und darauf hoffte, dass wider Erwarten und allen Befürchtungen zum Trotz aus dem Nebel ... dass aus dem Nebel ...
»Er hat mich nie abgeholt«, sagte Stort.
Ihr Griff wurde noch fester.
»Und darum sind Sie Mister Barklice ein wahrer Freund«, sagte sie, »und haben ihn hergebracht, denn Sie wissen, was richtig und was falsch ist und was ein junges Leben zerstört ... Jetzt ... jetzt ...«
Stort wagte wieder hinzusehen.
Noch immer kam kein Boot.
Noch immer trieb geisterhafter Nebel vorüber, und der Junge harrte unerschütterlich aus, nicht willens, aufzugeben, den frisch gepackten Rucksack neben sich, um in ein Boot zu steigen, das nicht kam, zu einem Vater, der nicht kam, sodass er als Letzter übriggeblieben war. So stand er da und sperrte sich gegen eine Wahrheit, die ihm das Herz brechen würde.
Die Leute am anderen Ende des Stegs verstummten. Wie es schien, hatten sie aufgegeben. Besonders eine Frau fiel Stort auf, nicht mehr ganz jung, recht unscheinbar, aber mit sanftem, anmutigem Gebaren. Das angegraute Haar an ihrem Hinterkopf schimmerte rot im Scheindes Feuers. Für einen Augenblick wandte sie den Blick von dem Jungen ab und einem der anderen zu, sodass Stort ihr Gesicht sehen konnte. Selbst sie hatte offenbar Zweifel, denn eine gewisse Traurigkeit lag in ihren Augen.
Nun gut, schien sie zu sagen, nun gut ... vermutlich ...
Eine ältere Frau und ein Mann traten zu ihr, beide Bilgener, groß, herzlich und bereit, jedem, der des Trostes bedurfte, die Hand zu reichen.
Deshalb sahen sie nicht, dass der Junge draußen auf dem Steg plötzlich zusammenzuckte und einen Schritt vortrat.
Auch Stort, dessen schmerzliche Erinnerungen vergessen waren, zuckte zusammen.
Ein Licht flackerte im Nebel auf, eine Laterne, die in die Höhe gehalten wurde, und eine Stimme, die Bedwyn Stort sehr vertraut war, rief: »Zeigen Sie mir, wo dieser verflixte Steg ist, verehrter Mister Barklice, denn ich kann nicht das Geringste erkennen! Nicht mal meine eigene Nasenspitze!«
Es war Arnold Mallarchi, der Enkel des alten Mallarchi vom Muggy Duck , der mitten im Nebel ein Boot über den Fluss steuerte.
»Was sehen Sie, Mister Barklice?«
Zuerst erschien das Licht, dann ein Arm und schließlich der Bug eines Bootes. Darauf stand in prekärer Schräglage, wobei er mit einer Hand zitternd die Laterne hochhielt und mit der anderen ein Taljereep umklammerte, der Oberforstmeister von Brum.
»Ich sehe einen ... Ich glaube ... es ist ...«
»Drücken Sie sich klar und deutlich aus, Mister Barklice«, rief Arnold. »Ist es nah oder fern?«
»Nah.«
»Was ist nah, Kamerad? Das Ufer, ein Felsen, ein Landungssteg?«
Der Junge trat gespannt vor. Barklice ließ das Taljereep los und richtete sich vollends auf.
»Es ist mein Junge«, antwortete er einfach nur.
Der Junge drehte sich für einen
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