Das Eulenhaus
Henrietta gestern – aber sie war ganz anders als Henrietta, fand er.
»Monsieur Poirot.« Sie klang liebreizend, fast ein bisschen erregt. »Ich habe jetzt erst entdeckt, wer mein Nachbar ist. Ich wollte Sie immer schon unbedingt mal kennen lernen.«
Er nahm die Hand, die sie ihm entgegenstreckte, und beugte sich darüber. »Enchanté, Madame.«
Sie nahm den Handkuss lächelnd entgegen, lehnte aber Tee, Kaffee oder einen Cocktail ab. »Nein, ich bin nur hier, weil ich mit Ihnen reden muss. Ernsthaft reden. Ich mach mir große Sorgen.«
»Sie machen sich Sorgen? Das tut mir aber leid.«
Veronica nahm seufzend Platz. »Es hat mit John Christows Tod zu tun. Morgen ist ja der Termin beim Untersuchungsrichter. Wussten Sie das?«
»Ja, ja, das weiß ich.«
»Und das war doch wahrhaftig alles so außergewöhnlich – « Sie brach den Satz ab.
»Die meisten Leute würden das gar nicht begreifen«, fuhr sie schließlich fort, »aber ich glaube, Sie schon, denn Sie wissen etwas über die menschliche Natur.«
»Ein bisschen weiß ich über die menschliche Natur«, gab Poirot zu.
»Inspektor Grange war bei mir. Er hat sich in den Kopf gesetzt, dass ich Streit mit John hatte – was in gewisser Weise auch stimmt, aber nicht so, wie er meint. Ich habe ihm gesagt, dass ich John seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen habe – er hat mir einfach nicht geglaubt. Aber es stimmt, Monsieur Poirot.«
»Da es stimmt«, sagte Poirot, »lässt es sich leicht nachweisen. Also warum die Sorgen?«
Sie erwiderte sein Lächeln auf das Freundlichste. »Die ganze Wahrheit ist – ich hatte einfach nicht den Mut, dem Inspektor zu erzählen, was Samstagabend tatsächlich passiert ist. Denn das ist so unglaublich verrückt, dass er es bestimmt nicht glaubt. Aber ich habe das Gefühl, ich muss es jemandem sagen. Deshalb bin ich jetzt hier.«
»Ich bin geschmeichelt«, sagte Poirot leise.
Das, stellte er fest, schien sie für selbstverständlich zu halten. Sie war eine Frau, dachte er, die sich der Wirkung, die sie auslöste, sehr sicher war. So sicher, dass sie womöglich gelegentlich Fehler machte.
»John und ich waren vor fünfzehn Jahren verlobt und wollten heiraten. Er war sehr verliebt in mich – so sehr, dass es mir manchmal unheimlich wurde. Er wollte, dass ich die Schauspielerei aufgebe – dass ich überhaupt meinen eigenen Kopf und meine eigene Arbeit aufgebe. Er war so besitzergreifend und herrisch, dass ich das Gefühl bekam, ich komme damit nicht zurecht, und die Verlobung auflöste. Das hat ihn, fürchte ich, sehr mitgenommen.«
Poirot schnalzte taktvoll und mitfühlend mit der Zunge.
»Ich habe ihn nie wieder gesehen, bis zum letzten Samstagabend. Er brachte mich nachhause und kam mit herein. Ich habe dem Inspektor erzählt, dass wir über alte Zeiten geredet haben – das stimmt auch in gewisser Weise. Aber das war längst nicht alles.«
»Sondern?«
»John ist übergeschnappt – völlig übergeschnappt. Wollte Frau und Kinder verlassen, ich sollte mich von meinem Mann scheiden lassen und ihn heiraten. Erzählte, er habe mich nie vergessen – und in dem Moment, als er mich wiedersah, sei die Zeit stehen geblieben.«
Sie schloss die Augen, schluckte. Ihr Gesicht war trotz des Make-ups sehr bleich.
Dann schlug sie die Augen wieder auf und lächelte Poirot fast schüchtern an. »Glauben Sie, dass so ein – ein Gefühl möglich ist?«, fragte sie.
»Ich denke, dass es das ist«, antwortete Poirot.
»Niemals vergessen – immer weiter warten und planen und hoffen. Kopf und Herz total darauf ausrichten, am Ende doch zu kriegen, was man unbedingt will. Es gibt solche Männer, Monsieur Poirot.«
»Ja – und Frauen.«
Sie sah ihn scharf an. »Ich spreche von Männern – von John Christow. Tja, so war es. Zuerst habe ich noch protestiert, ihn ausgelacht und einfach nicht ernst genommen. Dann habe ich ihm erklärt, dass er verrückt ist. Es war ziemlich spät, als er wieder ging. Wir haben hin- und hergestritten, aber er war auch weiter so – entschlossen.«
Wieder schluckte sie.
»Deshalb habe ich ihm am nächsten Morgen ein Briefchen geschickt. Ich konnte das nicht so stehen lassen. Ich musste ihm doch klar machen – was er wollte, war unmöglich.«
»Es war unmöglich?«
»Natürlich war es das! Er kam wieder zu mir. Hörte aber gar nicht an, was ich zu sagen hatte. Beharrte einfach genauso weiter. Ich habe ihm gesagt, dass es keinen Sinn habe, dass ich ihn nicht liebe, dass ich ihn hasse…«, sie
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