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Das Eulentor

Das Eulentor

Titel: Das Eulentor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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die Petroleumlampe an einem herunterhängenden Gestänge in der Zeltmitte. Die umherschwingende Lampe tauchte den Raum in ein Gewirr bewegter Schatten. Plötzlich entstand inmitten der Wasserlache ein Strudel, der immer heftiger um Christiansons Beine kreiste. Alles geriet in Bewegung. Doch etwas irritierte mich. Etwas an dem Anblick war anders, nur kam ich nicht dahinter. Meine Gedanken spielten verrückt.
    »Zurück!« brüllte Hansen.
    Christianson taumelte aus dem Wasser. Hansen und ich versuchten, eine Wolldecke herauszuziehen, die uns der Strudel allerdings aus den Händen riß. Da bemerkte ich es.
    »Das Wasser dreht sich in die verkehrte Richtung!«
    Hansen erstarrte für einen Moment. Bevor wir überhaupt begriffen, was vor sich ging, verschwand die Wolldecke wie von Geisterhand bewegt durch ein Loch unter der Wasseroberfläche. Luftblasen sprudelten hoch. Sie zischten wie Wassertropfen auf einer Herdplatte. Dann geschah alles viel zu schnell. Binnen Sekunden wurde es heiß. Dampf bildete sich im Zelt. Während wir tatenlos zusahen, wurde das meiste der Ausrüstung und des Proviants vom Wasser geraubt. Die Eisdecke brach mit einem Krachen unter uns weg. Wie ein gewaltiger Strudel floß das Wasser ab und riß alles mit sich, das ebenso spurlos verschwand wie die Decke.
    Wir taumelten zum Rand der Plane und starrten in ein gewaltiges, kreisrundes Loch von etwa drei Metern Durchmesser. Das Lampenlicht fiel durch die Risse der Bodenplane in die abgrundtiefe Schwärze. Wie Pech glänzten die Felswände eines Schachts. Die umliegende Schneedecke begann in den Abgrund zu rutschen, ebenso die schweren Werkzeugschränke, Proviantkisten und die mit Tauen zusammengebundenen Salzfässer. Christianson versuchte eine Kiste zu packen, als sich sein Bein in einem der Seile verhedderte. Das Gewicht der Truhe zerrte ihn über die Plane auf das Loch zu.
    »Berger!«
    Sein Schrei ging mir durch Mark und Bein. Ich rannte rüber und streckte den Arm nach ihm aus, griff aber ins Leere. Noch bevor sich Christianson aus der Schlinge befreien konnte, wurde er in den Abgrund gezerrt. Ich bekam nur noch seine Kette mit dem Walfischknochen zu fassen. Entsetzt starrte ich auf den Glücksbringer, während der Schwede in die Tiefe gerissen wurde. Sein panischer Schrei drang dumpf aus dem Schacht.
    »Achtung!« rief Hansen.
    Als nächstes wurden die Heringe der Reihe nach aus dem Eis gerissen. Metall flog uns um die Ohren. Ein Stift erwischte mich an der Wange. Durch die Kälte gefror das Blut sogleich, und mein Gesicht spannte, als wolle es reißen. Rund um uns wurde die Zeltplane vollends zerfetzt. Der gewaltige Sog zerrte alles mit sich. Rechtzeitig wurde ich von Hansen am Arm gepackt und zum Ausgang gezerrt. Wir stolperten und krochen auf allen vieren durch den Spalt nach draußen, um nicht mit dem Zelt in die Tiefe gerissen zu werden, das Sekunden später mitsamt dem Gestänge und der Öllampe in dem Loch verschwand.
    Im nächsten Moment saßen wir im Freien, umgeben von den spärlichen Resten der Plane, die zerfetzt im Wind flatterten. Sogleich ließ uns die Kälte erstarren.
    »Wir müssen Christianson raufholen«, preßte Hansen mit zusammengebissenen Zähnen hervor.
    Ich reagierte nicht, konnte nicht fassen, was wir soeben erlebt hatten. Vorsichtig kroch ich zum Rand und starrte ungläubig in das Loch, aus dem das immer kleiner werdende Licht der Öllampe raufleuchtete. Auch Christiansons Schreie tönten zu mir herauf – immer noch –, entfernten sich aber von Sekunde zu Sekunde, bis sie schließlich gänzlich im Geheul des Sturms untergingen. Wie verdammt tief mußte dieser endlos lange Schacht sein! Kein anderer Gedanke ging mir in diesem Augenblick durch den Kopf. Dann traf mich die Erkenntnis. Ich mußte Christiansons Frau und seinen Kindern beibringen, daß der junge Schwede nicht mehr heimkehren würde, und ich nichts weiter als diesen Walfischknochen hatte retten können. Harpun, Vanger und Christianson – die Liste wurde immer länger. Plötzlich waren von drei Menschenleben nur noch wenige persönliche Gegenstände übrig, die in eine Schachtel paßten, welche ich der Witwe und den anderen Hinterbliebenen aushändigen konnte. Mehr nicht. Mein Magen stülpte sich um und ich übergab mich in den Schnee. Hansen packte mich an der Schulter und wollte mich zum Verbindungsgang zerren, doch ich schlug seine Hand beiseite.
    »Christianson ist tot. Wir werden erfrieren!« rief er. »Komm!«
    Schließlich ließ ich mich führen.

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