Das Eulentor
freien Falls bedeuteten neun Sekunden eine Strecke von knapp vierhundert Metern. Möglicherweise reichte der Schacht noch tiefer hinunter, vielleicht sogar unter das Meeresniveau.
Als die Kälte zu schmerzen begann, kroch ich wieder zurück.
»Dieser Schacht ist keine gewöhnliche Gletscherspalte«, sprudelte es aus mir hervor, als ich das Zelt erreichte.
»Das ist überhaupt keine Gletscherspalte«, korrigierte Hansen mich.
»Davon rede ich ja!« Ich sah den Walfänger direkt an. »Etwas muß sich unter uns geöffnet haben. Sind dir die pechschwarzen, geraden Felswände aufgefallen? Und diese Tiefe! Mit etwas Glück reicht der Schacht Hunderte Meter unter den Meeresspiegel.«
»Mit etwas Glück?« echote Hansen. Er sah mich beunruhigt an, wie man sonst nur einen Verrückten betrachtete. Aber ich war nicht verrückt. Ich hatte eine genaue Vorstellung davon, was hier zu tun war: Die Menschen brauchten keine Karte, sie brauchten eine Entdeckung!
»Hier hat sich nichts aufgetan«, sagte Hansen betont langsam. »Es ist ein einfacher, häßlicher Schacht im Felsmassiv. Die Eisdecke ist eingebrochen und hat ein Loch freigegeben – das ist alles!«
»Selbst wenn du recht hast, und es ist ein gewöhnlicher Schacht, ändert es nichts daran, daß wir ihn entdeckt haben. Denk an unsere Kameraden.« Ich kramte Christiansons Kette mit dem Walfischknochen aus der Tasche. »Sollen Harpun, Vanger und Christianson ihr Leben umsonst geopfert haben?«
»Sie haben ihr Leben nicht geopfert«, widersprach Hansen. »Die Natur hat sie getötet.«
»Die Erforschung des Schachts könnte uns vor eine neue Herausforderung stellen«, sagte ich, meiner Euphorie beraubt.
»Falls wir die nächsten Tage überleben«, gab Hansen zu bedenken. »Das Furchtbare ist nicht einmal, daß wir sterben werden, sondern der Gedanke, daß keine Menschenseele je erfahren wird, wo und wie wir verhungert oder erfroren sind.«
Ich sagte kein Wort mehr. Während ich glaubte, inmitten des Sturms das Kreischen der Schneeeule zu hören, betrachtete ich Kathi Blooms Photographie, die ich immer noch bei mir trug. Bei ihrem Anblick wurde ich innerlich ruhig.
Hansen konnte mutlos den Kopf hängen lassen, doch ich würde nicht aufgeben – niemals. Ich griff zum Tagebuch. Es wurde an der Zeit, meine Gedanken zu ordnen. Morgen früh wollte ich mich zur Steilküste vorwagen, auf der Suche nach Vogeleiern oder Eiderentenfleisch. Wir mußten so lange wie möglich durchhalten, darauf hoffend, daß ein Schiff den Fjord erreichte. Während wir ums Überleben kämpften, trieb Kapitän Andersons Schiff auf dem offenen Meer. Zu diesem Zeitpunkt wußte ich noch nicht, daß Anderson beinahe eine Meuterei riskierte, nur um uns zu finden. Erst später sollte ich erfahren, was sich an Bord der Skagerrak zugetragen hatte.
FÜNFTES KAPITEL
K apitän Anderson fühlte die Kälte in den Fingern. Er stand an Deck und starrte mit dem Fernglas in den Fjord, wo das Nordlicht wie ein dunkelblauer Vorhang über dem Gebirge hing. Die Schlieren zerfaserten in alle möglichen Farbtöne, von violett über blau bis dunkelgrün. Anderson hatte dieses Schauspiel schon öfter gesehen, doch dieses Mal behagte es ihm nicht.
Die Expeditionsteilnehmer hatten das Schiff vor knapp drei Wochen verlassen, und seit drei Tagen ankerte die Skagerrak an der Mündung des Hornsundet-Fjords. An jenem vereinbarten ersten Kontrollpunkt war weder ein Steinturm errichtet worden, noch steckte eine Fahne mit einer Nachricht an irgendeiner Stelle des Küstenabschnitts. So wartete die Besatzung weiterhin auf das Eintreffen der Männer, doch nichts passierte – und das sah gar nicht gut aus.
Als die Kajütentür aufflog, nahm Anderson das Fernglas herunter. Der Steuermann kam heraus und trat an seine Seite. Eingemummt in einen Mantel, spuckte er mißmutig in die See. Der Kapitän wußte, was das bedeutete.
»Eigentlich müßten wir mit der neuen Fracht aus Tromsø längst wieder entlang der Küste Grönlands nach Island segeln«, murrte der Mann. »Wie es die Route vorschreibt.«
»Eigentlich …« Der Kapitän starrte weiterhin in den Fjord. Er wußte selbst, daß sie bereits massiv hinter dem Zeitplan lagen. Außerdem waren sie von den Walfängern gewarnt worden, daß im Moment die Eisbewegungen im Nordmeer gefährlich zunahmen. Die Mannschaft wurde unruhig. Sie sah bereits ihre Heuer davonschwimmen.
»Wir bleiben und warten«, brummte Anderson.
»Kapitän, diese Männer sind im November nach
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