Das Eulentor
Station endete, herrschte hier unten eine unerklärliche Zugluft, die wie von einem Strudel in die Tiefe gezogen wurde. Wir wußten nicht, woher dieser Wind kam – wir spürten nur die Kälte. Und wenn man genau hinhörte, ertönte dieses seltsame Geräusch. Es klang nicht wie das Heulen des Sturmes, sondern wie ein weit entferntes, gedämpftes Flügelschlagen. Ich wußte, hier unten konnten keine Lebewesen existieren, dennoch erinnerte mich dieses erstickte Surren daran. Manchmal war es so intensiv, daß sogar meine Bauchhöhle vibrierte. Zudem hatten wir in der teilweise rissigen Felswand Nester entdeckt. Diese Tiere hatten hier unten Nistplätze gebaut. Federn und verdorrtes Fleisch klebten in dem verfaulten Geäst. Das konnte nur bedeuten, daß der Schacht früher einmal freigelegt gewesen sein mußte und sich diese Tiere entweder in den Schacht geflüchtet hatten oder sie von ihm wie Mücken vom Licht angezogen worden waren.
»Alexander, der Hammer!« tönte die Stimme des Isländers von unten herauf.
Ich durchwühlte die Kiste, kniete mich hin und reichte das Werkzeug über den Rand der Plattform hinab. Unter der Gondel baumelten zwei mit Hüftgurten gesicherte Zimmerleute, die eine Querverstrebung für die zweite Seilwinde im Fels montierten. Jedes Mal, wenn ihnen etwas aus der Hand glitt und in die Tiefe stürzte, reichte ich ihnen das fehlende Werkzeug nach. Mehr gab es für mich im Moment nicht zu tun.
Da die enge Plattform höchstens fünf leichten Personen Platz bot und wir nur wenig darauf unterbringen konnten, mußten wir mehrmals täglich mit der Gondel hinauffahren, um weiteres Baumaterial nach unten zu schaffen. Mit einer Kurbel, Flaschenzügen und einem mechanischen Hebelwerk konnte die Gondel per Hand rauf- und runtergelassen werden. Eine Fahrt dauerte knapp vierzig Minuten. Natürlich wäre mir eine längere Wegstrecke lieber gewesen, aber die Winde konnte nur ein Maximalgewicht von einer dreiviertel Tonne tragen, weshalb wir auf eine Seillänge von fünfhundert Metern beschränkt waren. Also ging es in Etappen von fünfhundert Metern nach unten. Deshalb zogen wir nach dieser Distanz eine Zwischenebene ein, in der wir die Gondel wechseln mußten.
Noch heute sollte die nächste Winde montiert und die zugehörigen fünfhundert Meter Tau aufgewickelt werden. Danach wollten wir die Teile der zweiten Gondel hinunterschaffen und vor Ort zusammenbauen. Wie Hansen und ich vorausgesehen hatten, war der Transport von mehreren Tonnen Material in den Schacht zu unserem wesentlichsten Problem geworden. Da von dieser Lösung der gesamte Unternehmenserfolg abhing, hatte uns die Universität das Geländer, die Plattformen und Aufhängevorrichtungen der Gondeln in Einzelteilen geliefert – so wie ich es in meinem Brief nach Wien vorgeschlagen hatte. Selbst Winde und Seil mußten stückweise nach unten gebracht werden, was unglaublich viel Zeit kostete. Doch die Isländer schufteten Tag und Nacht in Zwölf-Stunden-Schichten, wodurch die Arbeit im Schacht nie zur Ruhe kam.
Auf den ersten Blick sah das alles vielversprechend aus, doch ahnte ich, daß wir mit dieser Methode bald an die Grenzen stoßen würden. Um so inniger hoffte ich, das Schachtende bald zu erreichen.
*
Eine Woche später, am fünften April, erreichten wir zum ersten Mal eine Tiefe von zweitausendfünfhundert Metern und befanden uns damit etwa zwei Kilometer unter dem Meeresniveau. Ich stand neben Jan Hansen auf der Plattform der letzten Gondel. Er kurbelte an der Seilwinde, während ich die Öllampe über das Geländer hielt und in die Tiefe starrte. Aber ein Ende des Schachts war nicht abzusehen. Ständig tauchten neue Felswände aus der Dunkelheit auf.
Je weiter wir hinunterkamen, desto schrecklichere Dinge entdeckten wir. Mittlerweile wußten wir, um welche Tiere es sich handelte, die in den Rissen ihre Nester bauten. Vor etwa einer halben Stunde waren wir an einer gewaltigen Felsnische vorbeigekommen, in der drei Brutplätze übereinander lagen. Den Gerippen der Jungtiere nach zu schließen, mit dem überdimensionalen Kopf, dem gekrümmten Schnabel und den nach vorne gerichteten Augenhöhlen, mußten es Eulen sein – einige davon schrecklich mißgebildet mit verkrüppelten Flügeln, andere bereits von den Muttertieren zur Hälfte gefressen, kaum daß sie aus den Schalen geschlüpft waren. Zwischen den bleichen Gebeinen klebten zum Teil noch Federn und mittlerweile zu schwarzem Moder verrottetes Fleisch. Der Anblick jagte mir
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