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Das Eulentor

Das Eulentor

Titel: Das Eulentor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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Auftrag der französischen Regierung die genaue Größe der Erde messen. Bei dem sogenannten Pendulum-Experiment wurden Bleigewichte in eine Meile tiefe Bergwerksschächte gehängt. Die Schächte wurden durch einen Stollen verbunden, damit man die Entfernung der Bleigewichte zueinander an der Erdoberfläche und in einer Meile Tiefe messen konnte. Nach der allgemeinen Lehrmeinung müßte der Abstand der Gewichte mit zunehmender Tiefe schrumpfen. Falls das stimmte, wollte man auf Grund dieser Differenz die Linien geometrisch ins Erdinnere projizieren, bis sie zusammentrafen. Aber das Gegenteil war der Fall!« Brehm hob die Augenbrauen. »Die Bleigewichte standen unten weiter auseinander als oben! Das bedeutet, das Zentrum der Gravitation liegt nicht inmitten der Erdkugel.«
    »Das ist verrückt!«
    »Das dachten die Franzosen auch. Daher wurde die Messung in anderen Bergwerksschächten wiederholt – doch das Ergebnis blieb stets das gleiche. Schließlich wurde das Experiment zu den Akten gelegt.«
    Wir schwiegen eine Weile.
    »Ich möchte verhindern, daß die Forschung auf dieser Insel ebenfalls zu den Akten gelegt wird.« Brehm griff in den Globus nach der Bibel, um sie fest zu umklammern. »Der Schacht ist ein Mysterium. Mit Gottes Beistand werden wir seine Bestimmung finden. Morgen gehe ich noch einmal auf Maximaltiefe, um weitere Experimente durchzuführen. Wollen Sie mich begleiten?«
    Brehm war ein Mensch voller Widersprüche. Der karrierebesessene Wissenschaftler entpuppte sich zudem als tief religiös – eine Eigenschaft, die ich ebenso wenig schätzte. Blieb zu hoffen, daß er sich zu keinem religiösen Fanatiker entwickelte. Jedenfalls hatte ich seinen Schwachpunkt gefunden: Brehm war eitel. Und das wollte ich nutzen.
    »Ich begleite Sie.«

 
ZEHNTES KAPITEL
     
     
    B rehm und ich starteten unseren Abstieg im Morgengrauen. Wir fuhren in die Tiefe wie Forschungsreisende, die sich in ferne Erdteile begaben, schwer beladen mit Laternen, Mappen, Listen und unzähligen Instrumenten. Nach anderthalb Stunden Fahrt erreichten wir den tiefsten zugänglichen Punkt des Schachts. Sechstausend Meter Dunkelheit lagen über uns – vermutlich noch mehr unter uns. Die schwankende Öllampe warf ihr Licht auf die Werkzeuge und Meßgeräte, die sich in der Gondel stapelten – wobei man von einer Gondel eigentlich nicht mehr sprechen konnte. Die Plattform, auf der wir standen, ähnelte mehr und mehr einem Käfig, der an einem Stahlseil über dem Abgrund hing.
    Stunden zuvor war Brehm im Schachtraum wie ein Wachhund auf und ab gelaufen, hatte jeden Handgriff der Isländer kontrolliert und alle kostbaren Instrumente, die er aus Berlin mitgebracht hatte, auf einer Liste abgehakt. Nun stand er im dicken Rentiermantel neben mir, lehnte sich über die Brüstung und machte eigenhändig weitere Probebohrungen im Stein.
    »Den Spitzmeißel!« verlangte er.
    Ich reichte ihm das Werkzeug. In dieser Tiefe hatte ich noch nie gearbeitet. Jeder Hammerschlag hallte merkwürdig nach, da sich das Echo über endlose Distanzen sowohl nach oben als auch nach unten ausbreitete. Die Schachtöffnung auf der Teufelsebene und das Licht aus der Station waren schon lange nicht mehr zu sehen, nicht einmal die Öllampe auf der tausend Meter über uns liegenden Seilwinde.
    Mühsam gelang es Brehm, einen Splitter aus der Wand zu befreien, den er später im Labor – wie er seine Kammer nannte – auf Radioaktivität prüfen wollte. Ich verstaute sämtliche Bruchstücke in den Gläsern. In dieser Tiefe waren die Wände von einer dünnen, pechhaltigen Schmiere überzogen, die teilweise aus dem Fels quoll, wodurch es schien, als schwitze der Schacht. Die Splitter waren ebenso mit diesem schwarzen, aber geruchlosen Talg bedeckt, der ekelhaft an meinen Fingern kleben blieb.
    Während Brehm Temperatur und Luftdruck bestimmte, Gewichte mit einer Federwaage maß, den Sauerstoffgehalt analysierte, mit der Kompaßnadel ständig neue Werte erhielt und alle verrückten Ergebnisse in ein Protokoll eintrug, stand ich geduldig daneben, ohne ein Wort zu sagen. Einmal spähte ich auf Brehms Thermometer. Elf Grad! Zwar war es hier unten deutlich wärmer als auf der Erdoberfläche, wo die Temperatur um den Gefrierpunkt lag, aber trotzdem irgendwie unangenehm. Das Gefühl ließ sich nicht beschreiben. Ich mußte den Kragenknopf öffnen, da mir die Luft fürchterlich schwül vorkam. Zeitweise war der widerliche Schwefeldampf zu riechen, der jedes Mal von unten heraufzog,

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