Das Eulentor
desto mehr Geld verschlingt das Projekt«, murmelte er. »Wenn wir runter wollen – und ich meine ganz runter – benötigen wir eine revolutionäre Technik, die enorm kostspielig wird. Wir brauchen eine kräftige Finanzgruppe. Das muß mit dem Unternehmensvorstand abgesprochen werden. Neue Ideen müssen entwickelt werden, um etwas umzusetzen, was noch nicht da war. Wir brauchen eine größere Station, wöchentliche Schiffsanlegezeiten, besser ausgebildetes Personal. Gewiß, das Ziel ist hoch gesteckt, aber es kann nur lauten: in dreizehn Kilometer Tiefe zu gelangen … und darüber hinaus.« Brehm verstummte, als wolle er seine Worte auf sich wirken lassen.
Mir allerdings schnürte der bloße Gedanke an einen Abstieg in die absolute Tiefe die Kehle zu. Wieder spürte ich den galligen Geschmack im Mund und das beklemmende Gefühl in meiner Brust. Trotz des Lagerfeuers waren meine Hände, in welchen ich Kathis Brief hielt, eiskalt. Wenn ich schon in sechstausend Metern in Panik geriet, wie würde ich mich erst weiter unten fühlen? Aber ich wußte, der Mann besaß den Ehrgeiz, seine Pläne in die Tat umzusetzen. Einen Teilerfolg hatte er bereits erzielt. Morgen würden die Isländer ihre Sachen packen. Mit dem nächsten Schiff kam bereits der erste Teil von Brehms angekündigter neuer Mannschaft auf der Insel an – die Vorhut sozusagen. Eine Gruppe deutscher Ingenieure, kopflastige Analytiker mit Maßband und Rechenschieber, mit denen Brehm schon früher zusammengearbeitet hatte.
Der Wind fegte durch die Bucht und fachte die Glut an, daß die Äste im prasselnden Feuer knackten und die Funken einige Meter aufstoben. Ich blickte zu Hansen und Brehm, die sich mittlerweile über die Tiefe des Schachts unterhielten und die Möglichkeit, einen Menschen so weit wie möglich in die Erde zu schicken. Sie stritten sich beinahe darum, wer den ersten Schritt nach unten wagen dürfe. Beim Anblick ihrer leuchtenden Augen wurde mir eines klar: Hansen hatte in dem deutschen Ingenieur einen Verbündeten gefunden. Beide waren von der Idee besessen, das Geheimnis um die Tiefe des Schachts zu ergründen. Man konnte es nicht mehr Ehrgeiz nennen, es war zu einer fixen Idee, zu einer persönlichen Herausforderung der beiden geworden. Sie sprachen von Mut, Pioniergeist, dem Vollbringen übermenschlicher Leistungen und dem Triumph der modernen Technik über das unbekannte Terrain. Zwar verfolgten sie dasselbe Ziel, allerdings auf eine unterschiedliche Weise. Brehm wollte die Grenzen erforschen, Hansen wollte sie überschreiten. Brehm tastete sich Schritt für Schritt auf eine besonnene und rationale Weise an die Rätsel des Schachts heran, ohne etwas zu überstürzen – dem hitzköpfigen Hansen konnte es jedoch nicht schnell genug gehen. Mit einem Mal kam ich mir mit meiner Furcht vor der Enge und der beklemmenden Dunkelheit in dem Schacht fehl am Platz vor, wie ein Hindernis, das dem Fortkommen des Projekts im Wege stand. Dabei war ich es einst gewesen, der die Idee gehabt hatte, ihn zu erforschen.
Als die Wolken weiterzogen, tat sich ein Riß am Himmel auf, durch den die Mitternachtssonne lugte. Schlagartig erwärmte sich die Luft und prickelte auf meinen Wangen. Vielleicht sah ich auch alles viel zu schwarz. Ich sollte vielmehr die Plusgrade genießen, und so blinzelte ich über die glitzernde Wasseroberfläche des Fjords. Röhrend streckten die Robben ihre Schnauzen in die Luft.
Da griff Hansen nach seinem Banjo und begann zu spielen, während das Holz im Feuer knisterte. Ich holte mein Tagebuch aus der Tasche. Auf einem so schönen Fleckchen Erde wie hier konnte alles nur gut enden. Das dachte ich jedenfalls.
ELFTES KAPITEL
W ir schrieben die vierte Juliwoche des Jahres 1914. Ich stand am Bug des Schoners und starrte über das flache, glitzernde Meer. Die Skagerrak hatte zwei weitere Jahre auf dem Buckel. Mittlerweile war sie zu einer abgetakelten Dame geworden, die dringend in der Tromsøer Werft überholt werden mußte, doch den Norwegern fehlte das Geld – wie allen anderen Nationen auch. Der graue, bärbeißige Anderson war immer noch ihr Kapitän, doch von der alten Mannschaft waren bloß noch der Eislotse und der Proviantmeister übrig. Erzählungen zufolge war der Schiffsarzt, der einst Hansen und mir das Leben gerettet hatte, vor einigen Wochen gestorben – an Bord eines Schiffes. Doc Travis war nie eine Landratte gewesen. In seinem Nachlaß fanden sich einige Bücher, die er mir angeblich vererbt hatte,
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